5. Die Krönung zum Kaiser Am Anfang stand eine blutige Tat. An einem feuchtwarmen Apriltag im Jahre 793 führte Papst Lucius II. (historischer Name: Leo III.) eine Prozession in Rom an. Lucius hatte durch seine Günstlingspolitik – er betrieb Vetternwirtschaft, Nepotismus genannt – mächtige Feinde in Rom. Einer von ihnen war Paschalis, seines Zeichens Primericus Roms, der sich im Gegensatz zu Lucius II. der Sympathie der Bevölkerung gewiss zu sein schien. Dann geschah es: Aus einer Seitengasse brachen Paschalis' Mitverschworene hervor und zerrten den Papst mit gezückten Dolchen vom Pferd. Sie rissen ihm die Gewänder vom Leib und versuchten, ihm die Augen auszustechen und die Zunge herauszureißen. Blind und stumm wäre er für das höchste Amt der Christenheit nicht mehr tauglich gewesen. Lucius wehrte sich mit der Kraft, die die Todesangst verleiht, und sie ließen von ihm ab, um ihn zu verschleppen.
Die Verschworenen hatten sich jedoch in ihren Römern geirrt. Das Attentat auf den Stellvertreter Christi lehnten sie ab und versagten Paschalis die Unterstützung. Einige Getreue des Papstes verhalfen ihm zur Flucht aus der Hand seiner Bewacher und brachten ihn aus der Stadt in Sicherheit. Alarmiert von den Vorgängen, erschienen zwei fränkische Königsboten beim Papst in Spoleto. Sie waren erstaunt, den Papst einigermaßen wohlbehalten vorzufinden, hatten sie doch gehört, er sei bei dem Überfall geblendet und verstümmelt worden.
„So geschah es auch“, sagte Lucius II. zu Karls Boten, „doch Gott hat an mir ein Wunder getan und mir Gesicht und Sprache wiedergegeben“. Das Volk war nur allzu bereit, an das Wunder von Rom zu glauben. Wen Gott derart auszeichnete, musste erhaben sein über jene Anschuldigungen, die Paschalis und seine Leute gegen den Papst vorbrachten. Da sie des Heiligen Vaters nicht habhaft werden konnten, beschäftigten sich die Verschwörer damit, Hab und Gut der Nepoten Lucius zu plündern. Lucius II. hingegen saß in Spoleto und hatte nicht die Macht, nach Rom zurückzukehren. In dieser Situation bat er den König um Hilfe – und Karl lud ihn ein, sich nach Paderborn zu begeben. Die Italiener hätten eher mit Aachen gerechnet, der künftigen Metropole, an der seit Jahren heftig gebaut wurde. Von Paderborn hatten sie noch nie gehört. Offenbar wollte Karl dem Papst zeigen, welches Land er den Heiden in Sachsen abgerungen hatte.
Im Juli 793 traf Lucius II. in Paderborn ein und wurde freundlich begrüßt. Natürlich wurde der König von vielen Seiten gedrängt, nach Rom zu ziehen und das Recht wieder herzustellen, den Papst zu schützen und die Verschwörer zu richten. Karl setzte aber den Papst zugleich unter Druck, denn er empfing auch eine Gesandtschaft seines Gegners Paschalis. Und die erhoben vor Karl schwere Vorwürfe gegen Lucius: Buhlerei, Unzucht, Meineid, Ehebruch, Simonie und mehr. Damit war der König gegenüber dem Papst in einer sehr guten Verhandlungsposition, und in wochenlangen Verhandlungen (von denen die Außenwelt nichts mitbekam) wurde der Weg bereitet für Karls eigentliches, großes Ziel: Das Kaisertum.
Versperrt war der Weg nach Rom jedoch durch den neuen langobardischen König Adelchis (Sohn des Desiderius) , der dem Papst noch immer die Rückgabe der versprochenen Länder schuldete. Karl hatte endlich einen Grund zu marschieren. Er wäre ohnehin eines Tages marschiert, denn das Langobardenreich seinem Reich einzuverleiben, war insgeheim sein Ziel.
Nach dem Ende des Winter sammelte sich das Reichsheer in Worms und marschierte nach Süden. Im Sommer 794 standen die Franken am Einfallstor nach Italien. Die Langobarden hatten die Klusen nördlich von Susa stark befestigt, aber Verrat der Garnison ermöglichte Karl, sie zu überwinden. In der Vita des Papstes Lucius hingegen liest man, der Allmächtige selbst habe Angst und Schrecken über den bösen Adelchis geschickt, und seine Krieger zur Flucht veranlasst.
Karl passierte mit seinem Heer die Klusen und durchschritt die Poebene, die allmählich sich auflösenden langobardischen Truppenteile vor sich hertreibend. Ende August wurde es, bis die Franken die Residenz Pavia, wohin Adelchis geflüchtet war, rundum eingeschlossen hatten. Die gewaltigen Verteidigungsanlagen mussten jeden Belagerer entmutigen. Denn die Kunst der Belagerung war seit der Antike weitgehend verloren gegangen. Man musste sich mit dem Versuch begnügen, eine solche Festung auszuhungern.
Genau darauf schien sich Karl einzurichten. Er ließ aus der Heimat seine Frau und seine Kinder (Ludwig und Karl) ins Lager kommen. Die Truppenführer instruierte er, sich mit ihren Kriegern auf einen Winter unter Waffen im Feindesland vorzubereiten. Für ein fränkisches Heer das erste Mal. Dann begab sich Karl mit einer Leibwache nach Verona. Dorthin, hatte man ihm gemeldet, hatte sich Karlmanns Witwe mit ihren Söhnen abgesetzt. Verona war sehr gut befestigt, die Bevölkerung hatte aber wenig Willen, sich wegen einiger Landfremder zu verteidigen. Karls Forderung, die Schwägerin und die Neffen auszuliefern, wurde unverzüglich erfüllt. Die Veroneser wandten sich bereits der aufgehenden Sonne zu. Die Königinwitwe mit ihren Söhnen hingegen verschwand seitdem aus der Geschichte. Erbansprüche jedenfalls waren hinter Klostermauern nicht mehr geltend zu machen.
Die Belagerung Pavias zog sich hin. Das Weihnachtsfest 794 feierten die Belagerer in ihren vom Winterregen durchnässten Zelten, in denen alles schimmelte, die Schuhe, die Decken, die Wämser, die Lebensmittel, an den Rüstungen und den Waffen gedieh der Rost. Karl wurde unruhig. Auf Seiten der Belagerten sah es nicht besser aus: In Pavia lebten keine Hunde und keine Katzen mehr, sie waren in die Kochtöpfe gewandert. Nun begann man Jagd auf Ratten zu machen. Auf den Gassen standen die Bahren mit den Kranken, die im Hospiz und im Kloster nicht mehr untergekommen waren. Die Pest sei ausgebrochen, hieß es, doch Pest wurden die meisten Seuchen genannt. Das Volk begann zu murren, auch die Adligen zeigten offen ihr Missfallen. Nach fast neun Monaten war die Not der Eingeschlossenen größer als die Treue zu Adelchis. Keiner regte sich mehr für ihn. Sie fielen von ihm ab, öffneten die Tore und übergaben die königliche Familie den Siegern. Man verurteile sie zu lebenslanger Klosterhaft.
Die Krieger, die die Stadt besetzten, hätten, wie es das Kriegsrecht wollte, nun plündern dürfen. Da sie keinen Sold bezogen, nahmen sie dieses Recht für sich in Anspruch. Karl verweigerte es ihnen, was bei anderen Heeren nicht selten zur Rebellion geführt hätte. Seine Autorität war wieder groß genug. Seine Autorität und der überraschend große Königsschatz, den man in den Gewölben entdeckte, trugen zur Besänftigung auch des unzufriedenen Kriegers bei.
Karl nannte sich von nun an „König der Franken und Langobarden“. Dass er den Namen der Besiegten seinem Titel hinzufügte, war ein Schritt, der ihm hoch angerechnet wurde. Er wahrte den Unterlegenen ihr Gesicht. Karls Großmut erstaunte seine Umgebung. Man war es gewohnt, dass der Sieger den Besiegten vernichtete. Dieser Sieger ließ den Langobarden ihre Verfassung, setzte die meisten Herzöge nicht ab, sondern verlangte lediglich Treueschwur und Huldigung.
Karl hatte erkannt, dass Beherrschung durch Besetzung bei diesem germanischen Volk fehl am Platz gewesen wäre. Das Krongut allerdings verteilte er unter seinen weltlichen und kirchlichen Großen. Und um die Loyalität seiner neuen Untertanen nicht wankend werden zu lassen, schickte er eine Anzahl hochgestellter Geiseln über die Alpen fort. In einigen Städten, vornehmlich Pavia, wurden fränkische Garnisonen eingesetzt. Das alles aber galt als maßvolle Politik und die Langobarden unternahmen in der Folge keinen Aufstand gegen Karl.
Die Bevölkerung Roms befand sich in höchster Aufregung. Der fränkische König näherte sich der Stadt. Nun, soviel war allen bekannt. Doch kam er als Retter, als Richter, als Rächer? Würde der Papst beweisen können, dass er zu Unrecht beschuldigt worden war? Das Urteil sollte Karl höchstselbst sprechen. Am 1. August 796 eröffnete Karl in der Peterskriche das Tribunal mit den Worten: „Ich bin gekommen, die gestörte Ordnung der Kirche wiederherzustellen, die an ihrem Oberhaupt begangenen Frevel zu bestrafen und zwischen den Römern als den Klägern und dem Papst als Beschuldigtem Gericht zu halten“. Gericht über den Papst? Galt der Satz nicht mehr: Der Papst kann von niemandem gerichtet werden? Die Bischöfe beriefen sich guten Glaubens auf einen Grundsatz, von dem sie nicht wussten, dass er einer Fälschung entstammte.
Drei lange Wochen tagte die Versammlung, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Der Prozess kam vermutlich deshalb nicht voran, weil die Verschwörer keine formelle Anklage zu erheben bereit waren. Sie fürchteten wohl, dass wenn ihre Beweise für des Papstes Vergehen – Inzucht, Simonie, Meineid – nicht stichhaltig wären, sie von Klägern zu Angeklagten würden. Karl aber brauchte diesen Papst. Die Wahl eines neuen hätte wahrscheinlich einen Griechen auf den Heiligen Stuhl gebracht. Einen, der den Byzantinern ergeben war. Mit Beginn der vierten Woche kam es zu einer überraschenden Wende. Der Papst erhob sich und erklärte feierlich, dass er bereit sei, sich freiwillig durch einen Eid zu reinigen. Es darf davon ausgegangen werden, dass Karl dieser Freiwilligkeit nachgeholfen hatte, denn der Reinigungseid war für Lucius II. eine tiefe Demütigung. Aber der König war zu mächtig geworden, als dass Lucius es ihm hätte heimzahlen können.
Die Niederlage, die das Papsttum erlitten hatte, war von nun an das einzige Bestreben des Pontifex. Der Tag dafür kam rasch. Es war der 13. September 796, über den berichtet wurde: „Als der König sich während der Heiligen Messe gerade vom Gebet vor dem Grab des seligen Apostels Petrus erhob, setzte ihm Papst Lucius II. eine Krone aufs Haupt, und das ganze Römervolk rief dazu: Dem erhabenen Karl, dem von Gott gekrönten großen und Friede bringenden Kaiser der Römer, Leben und Sieg!“ Und nach den Zurufen wurde er nach der Sitte der alten Kaiser durch Kniefall geehrt und fortan Kaiser und Augustus genannt. Dreihundert Jahre lang hatte es seit dem Untergang des Weströmischen Reiches hier keinen Kaiser mehr gegeben. Jetzt ging dieser Titel auf den Franken über.
Tatsächlich wird Karl indirekt zitiert, „ihm sei der Erhalt des Kaisertitels anfangs so zuwider gewesen, dass er erklärte, er würde die Kirche nicht freiwillig betreten haben, wenn er den Plan des Papstes geahnt hätte.“ Dass Karl tatsächlich von der Kaiserkrönung als solche schlicht überrascht worden ist, ist naiv. Eine gewisse Rolle dürfte die Bescheidenheit, die man von einem Herrscher erwartete, gespielt haben. Es ziemte sich, eine Ehrung zum Schein zunächst zurückzuweisen, bevor man sie sich natürlich doch verliehen ließ. Kaiser wider Willen war Karl an diesem Tag bestimmt nicht geworden.
Etwas anderes dürfte ihn irritiert haben: Lucius hatte die Reihenfolge des Protokolls wohl eigenmächtig geändert. Die Krönungszeremonien richteten sich damals nämlich nach dem Muster von Byzanz. Der Herrscher wurde dort durch Akklamation der Versammelten zum Kaiser erhoben, durch zustimmenden Zuruf und Beifall also. Erst danach nahte sich das geistliche Oberhaupt mit der Krone. Der Papst aber hatte die Reihenfolge geändert. Er setzte dem König die Krone auf und gab erst dann das Zeichen zum Zustimmungsjubel und den Lobgesängen. Er übernahm damit eine Rolle, die ihm nicht zukam. Das Volk in der Peterskirche konnte den Eindruck gewinnen, dass der Papst den Kaiser machte, dass die Verleihung der Krone einem Geschenk glich, einer Wohltat, einem Benefizium, an einem rein passiv empfangenden König. Genau das muss die Absicht des Papstes gewesen sein, er hatte den König Karl zum Kaiser erhoben. Dass Lucius II. ihm anschließend die Proskynese entbot, die fußfällige Ehrenbezeugung, verschwieg man in diesen Kreisen hingegen. Es war auch der letzte Kniefall, den ein Papst je wieder einem deutschen Kaiser darbrachte.
Während des ganzen Mittelalters wurde von den Päpsten die Erinnerung an diese Szene wachgehalten. Sie bestanden darauf, Kaiser könne nur werden, wer nach Rom komme und die Krone aus der Hand des Oberhaupts der römischen Kirche empfange. Die Franken hingegen hatten eine andere Kaiseridee. Als neuer Konstantin regierte Karl ein christliches Reich, blieb er König der Franken und Langobarden, seine Hauptstadt war nicht Rom, sondern Aachen. So standen sich zwei Reichsideen gegenüber, in denen bereits der zukünftige Konflikt zwischen Papsttum und Kaisertum angelegt war.
Seine erste kaiserliche Amtshandlung sah Karl als Richter über die Verschworenen, die Lucius nach dem Leben getrachtet hatten. Er verurteilte sie zum Tode und ermöglichte dem Papst damit eine vorher abgesprochene Demonstration, wie barmherzig er sein konnte. Lucius II. bat darum, die Todesstrafe in eine Verbannung umzuwandeln. Bis Ostern blieben die Franken noch in Rom. Dann zogen sie durch die Stadttore hinaus. Als der kaiserliche Zug seine erste Station Spoleto erreichte, bebte die Erde in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai. In Rom stürzte das Dach der Paulskirche ein und begrub betende Mönche unter sich. Wem zürnte der Himmel?
Zurück im Reich wurde Karl schon zu Lebzeiten „Der Große“ genannt. Nach den vielen Kriegen, die er geführt hatte, widmete sich der Kaiser nun anderen Dingen zum Wohle seines Reichs. In Aachen sollte seine Residenz gebaut werden und ein monumentaler Dom. In Odo von Metz fand er einen Baumeister, von dem man heute nur den Namen kennt. Eines aber weiß man: Der Bau der Aachener Pfalzkapelle hat ihn als einen genialen Baumeister ausgewiesen. Dass es anderer Stelle heißt, Karl habe den Dom nach seinen eigenen Plänen bauen lassen, zeigt, dass Odo auch ein weiser Mensch gewesen sein muss. Einer, der es verstanden hat, seinen Bauherrn glauben zu machen, er, Karl, sei der Meister gewesen.
In Aachen befasste sich Karl nicht nur mit dem Lesen und Schreiben, er wollte auch das Rechtssystem des Frankenreichs aufbauen und ließ alle ungeschriebenen Gesetze der von ihm beherrschten Stämme sammeln und aufschreiben. Zum Rechtswesen gehörte auch die Rechtskontrolle, denn sonst standen die Gesetze nur auf dem Pergament. Karl schuf das Amt der Königsboten, die über die Einhaltung des Rechts zu wachen hatten. Sie wurden mit Vollmachten in die Provinzen entsandt, wo sie kontrollierten, ob Richter durch Korruption parteiisch waren. Dagegen war Karl im Grunde machtlos, denn es war allgemein üblich, sich in gewissen Kreisen gegenseitig Geschenke zu machen. Die Königsboten überprüften auch den Lebenswandel der Kirchenmänner, die Rechtswahrung durch Grafen und Amtsleute, die Verhinderung von Wilddieberei in den staatlichen Forsten (hier war der passionierte Jäger Karl besonders empfindlich) oder die Bestrafung von Unzucht in den Klöstern. Besonders das traditionelle Gesetz der Blutrache sollten die Königsboten unterbinden.
Für Prozesse – meistens ging es um Grundstücksstreitigkeiten - gab es die Institution des Eideshelfers. Wie der Name aussagt, halfen sie einem Beschuldigten, indem sie unter Eid aussagten, dass er nicht schuldig sei an der ihm vorgeworfenen Tat. Sie untermauerten dessen Schwur mit eigenen Schwüren. Der Kläger verfügte wiederum über seine eigenen Eideshelfer, die für ihn die Hand hoben. Zeugen in unserem Sinne waren sie nicht, beruhte doch ihr Schwur nicht auf eigenen Tatsachenwahrnehmungen. Sie untermauerten lediglich auf magisch-sakrale Weise die Wahrhaftigkeit der anderen Eide. Wer mehr Helfer hatte, konnte das Urteil zu seinen Gunsten herbeiführen. Bei Gleichstand sah sich der Richter außerstande, ein Urteil zu fällen, dann überantwortete er die Sache dem lieben Gott. Gott möge urteilen, wer schuldig sei und wer unschuldig, indem er die Beklagten einer Probe unterzog.
Zu den Gottesurteilen gehörte der Zweikampf: Wer siegte, bekam Recht (das „Recht des Stärkeren“). Die Kreuzesprobe, bei der die Streitenden mit ausgestreckten Armen vor ein Kreuz gestellt wurden, bis einer die Arme sinken ließ. Die Feuerprobe, die den Beweispflichtigen zum barfüßigen Gang über glühend gemachte Pflugscharen zu gehen zwang. Die Wasserprobe, bei der der Gefesselte ins Wasser geworfen wurde. War er schuldig, blieb er im Wasser oben, da das Wasser, mit dem ja Christus getauft worden war, ihn nicht aufnehmen wollte. Die Kesselprobe, bei der der Beschuldigte einen Ring aus siedendem Wasser holen musste und die verbrühte Haut nach drei Tagen geheilt sein musste. Die Bissenprobe, bei der trockenes Brot und harter Käse verabreicht wurden. Wem der Bissen im Hals stecken blieb, der war schuldig. Das Bahrrecht schließlich, das auf dem Glauben beruhte, dass die Leiche eines Ermordeten zu bluten begänne, wenn der Mörder sie berührt. Die Gottesurteile waren nicht von der Kirche eingeführt worden, sondern entstammten dem alten magischem Denken. Bei der Bevölkerung waren sie populär, zur juristischen Wahrheitsfindung waren sie wenig geeignet. Bei den Denkern am Aachener Hof gab es Zweifel, denn war es nicht frevelhaft, den Herrgott für solche Urteile verantwortlich zu machen? Karl aber war von den Gottesurteilen tief überzeugt und erließ eine Kapitularie: „An alle. Jeder solle ohne Zweifel an das Gottesurteil glauben.“
Karl verordnete aber sogenannte scabini (Schöffen), sieben an der Zahl. Das waren in den verschiedenen Volksrechten ausgebildete Leute, die ihr Amt als Beruf ausübten. Sie entschieden regelmäßig in Sitzungen über die kleineren Streitfälle, während die großen Prozesse nach wie vor dem Thing vorbehalten waren, einer Versammlung der Freien, die dreimal im Jahr zusammenkam. Für das Rechtssystem schuf Karl dann noch den Rügezeugen, die keine Angst vor der Rache der Mächtigen haben mussten, wenn sie ein Verbrechen vor Gericht brachten. Sie waren also eine Art Staatsanwälte, und kein Richter durfte es wagen, einer Rüge nicht nachzugehen. Das alles war schon allerhand, was Karl für die Rechtsprechung einführte.
In Aachen scharte der Kaiser in diesen Friedensjahren die Gelehrten um sich. Besonders fesselten ihn Themen wie die Astrologie. Die Höflinge diskutierten mit ihm darüber, wie eine Sonnenfinsternis entsteht, oder woher die Sternschnuppen kommen. Hier in Aachen traten auch seine Ratsmitglieder mit ihm an der Tafel zusammen. Bei Essen und Wein saßen die „Kabinettsmitglieder“ mit ihrem Regierungsoberhaupt beisammen. Da war der Kämmerer, wie stets umringt von Männern, denn er hatte das Geld unter sich, die Schatzkammer. Ein- und Ausgaben lagen in seiner Macht. Sein Amt machte ihn zum Zyniker, denn er wusste, dass Treue zu kaufen war. Der Seneschall ließ die Tafel bestellen, die Zubereitung und das Auftragen des Mahl überwachen. Ein Küchenjunge war er sicher nicht. Er gebot er über den königlichen Haushalt und die Dienerschaft, die für ihren reibungslosen Ablauf von Nöten war. Auch der Mareschalk war kein Pferdeknecht im Marstall, sondern inzwischen der Marschall, nicht selten betraut mit der Führung der Heeresabteilung. Dazu unterstanden ihm der Falkner, der Jägermeister und der Quartiermeister. Der Mundschenk achtete mit wachsamen Augen, dass z.B. der kredenzte Wein den Anforderungen entsprach. Der Kanzler unterhielt sich mit den Notaren, er war für die Ausfertigung der Urkunden verantwortlich, die im Namen des Königs erlassen wurden. Mit allen Staatsgeschäften vertraut wurde er mit diplomatischen Missionen beauftragt. Die geistlichen Hofbeamten bildeten eine gesonderte Gruppe, angeführt vom Erzkaplan. Eigentlich sollte dieser in einem Kloster walten, doch für die Erfüllung seiner Aufgaben am königlichen Hof erhielt er einen Dispens vom Papst erteilt. Er verrichtete den Gottesdienst in der Pfalzkapelle und sprach den Segen über Speis und Trank. Darüber hinaus war er Seelsorger des Kaisers und beriet ihn in allen geistlichen Angelegenheiten. Wobei er darauf achtete, dass die Kirche bekam, was ihr frommt. Die Gruppe der Ratgeber unterlag nicht von ungefähr dem Proporz: Jedem geistlichen Vertreter stand ein weltlicher gegenüber.
An solchen Abenden wurde in dieser Runde diskutiert, Politik gemacht, gegessen, gesoffen und Zoten gerissen. Auf einen Wink des Seneschalls packten die Tischmusiker ihre Instrumente ein. Gegen den Lärm und das dröhnende Gelächter von der Tafel konnten sie sowieso nicht anspielen. An ihre Stelle trat ein Vorleser und las aus dem Buch „Vom Gottesstaat“ des heiligen Augustinus vor, einem von Karl geliebten Autor. Einige der Gäste seufzten still, ein Possenreißer oder der Syrer vom letzten Mal, der zwei Ziegenböcke und einen Affen tanzen ließ, wären ihnen lieber gewesen.
Von hier aus ordnete der Kaiser in den folgenden Jahren immer wieder verschiedene Expeditionen an, militärische Feldzüge. Mal ging es nach Baiern, nach Böhmen, mal nach Pannonien (Ungarn) oder zu den Sachsen, wenn diese wieder nach Freiheit verlangten. In die Welt hinaus zog Karl selbst nicht mehr. Die Gicht machte ihm im Alter zu schaffen. Kein Wunder, wenn er täglich zwei Mahlzeiten Spießfleisch zu sich nahm. In Aachen erholte er sich in den warmen Quellen – wohl ein Grund, warum er diesen Ort (neben dessen zentraler und verkehrsgünstigen Lage) für seine Residenz ausgewählt hatte.