" Weißt du, warum wir heute so vorbildlich angezogen sind?", fragte ich vorsichtig.
" Hey, wer ist denn der Sohn des Geschäftsführer??", kam die etwas freche Antwort von Camillo.
Es war ein sehr ungewohnter Anblick. Normalerweise lief jedes Kind in dieser Jahreszeit – es war gegen Ende meines ersten Schuljahres – in kurzärmeligen Hemden und kurzen Hosen durch die Gegend. Aber nicht heute. Die Jungs saßen im Sonntagsanzug gerade und aufgerichtet auf ihren Plätzen. Die Mädchen saßen ebenfalls in ihren Sonntagsanzügen in den Bänken.
" Sieh mal, fast jedes Mädchen hat einen feinen Zopf.", sagte Pietro. Er pfiff einmal kurz zu den Mädels rüber.
" Pietro?!", ertöntet es von vorne. Frau Agnesi wirkte nervös und übereifrig. Scheinbar wusste sie, wer zu Besuch kam und wollte perfekt wirken. Sie machte aber mehr Fehler als in den sonstigen Stunden.
Sie drehte sich wieder zu Tafel und ich nutze den Augenblick, um einen genaueren Blick auf die Mädchen zu werfen. Pietro hatte Recht. Die meisten Mädchen trugen wirklich Zöpfe. Meist nur einen einzelnen geflochtenen, aber zwei Mädchen hatte soger zwei Zöpfe und wirkte noch kindlicher als sie waren. Mein Blick schwiefte von den Haaren ab und glitt in Richtung ihrer Kleider. Alles wirkten wie neu bis mir auffiel, sie waren alle neu.
Welche Person könnte bloß so wichtig seien, dass man neue Kleidung kaufen würde?
Sie wirkten, wie maßgeschneidert, was zu dieser Zeit überaus teuer war. Meine Mutter konnte sich auch nicht jeden Monate neue Kleider kaufen und wenn ich bedenke, was die Eltern der Mädchen verdienten, fragte ich mich ernsthaft, wie lange man wohl gespart haben muss.
" Was schaust du so unverholen da rüber?", fragte Auguste auf einmal.
Ich schüttelte den Kopf und drehte ihn zu Auguste. Ich hatte scheinbar doch etwas länger als ich beabsichtigt hatte auf doe Mädchen gestarrt. Mir fehlten gerade die Worte, als Camillo zu uns flüsterte:
" Na, was denkst du denn? Unser kleiner Giorgio hat gefallen an einem bestimmten Mädchen gefunden."
"Welchem denn?", antwortete Auguste.
"Warum fragst du mich das?"
Auf einmal blickten mich alle drei Jungs an.
"Ist das nicht ein bisschen sehr weit hergeholt?", fragte ich unsicher.
Keine Antwort. Sie blickten mich stumm an.
Ich seufzte und sagte: "Ich habe nur kontrolliert, ob du die Wahrheit gesagt hast, Pietro. Und.. und hab mir dann etwas genauer die Kleider angeschaut."
"Uhhhhhhhhhhh", machte Auguste und hielt sich seine Hand vor den Mund, damit Frau Agnesi es nicht mitbekam. Es war jedoch noch laut genug, dass sich die Reihe vor Pietro und Camillo umdrehten, um mitzubekommen, was hinter ihnen passiert.
" Hey, dreht euch wieder um, bevor Frau Agnesi etwas auffällt.", raunte Pietro leise.
Sofort drehten wir uns alle nach vorne.
"Als ob das alles wäre.", flüsterte Camillo und ich schätze mal, dass ein teuflischer Grinsen aufsetzte.
" So liebe Kinder und nun will euch noch kurz vorbereiten auf den Gast, der heute unsere Schule besucht. Dieser Gast....", setzte Frau Agnesi.
Sie wurde jedoch unterbrochen, als jemand an die Tür klopfte.
"Alle so gut wie es nur geht benehmen.", brachte sie noch heraus und hatte auf einmal einen Schweißausbruch.
Sie schritt langsam Richtung Tür und öffnete sie. Sie verbeugte sich und ging aus dem Bereich der Tür.
Es trat eine Mann, etwa 35 Jahre alt, in Militäruniform ein. Es schepperte in jedem Schritt, da der Säbel an seiner Seite raschelte und die Orden immer wieder an einander klapperten.
Er hatte einen Schnauzer und kurze Haare. Er grinste uns an.
Frau Agnesi deutete uns an, dass wir aufstehen sollten, und zwar so, dass der Mann vor ihr es nicht mitbekam.
Auf einmal wurde es laut im Klassenraum, als die Bänke ein bisschen geschoben wurden und alle sich hinstellten. Wir wollten gerade alle ein "Guten Morgen." ausstoßen, so wie Pietro Luft holte schon eher brüllen, als der Mann uns mit einer Handbewegung davon stoppte.
" Setzt euch bitte wieder.", sagte er mit freundlicher Stimme.
"Aber, aber...", stammelte Frau Agnesi.
" Es ist alles in Ordnung."
Wir setzten uns wieder.
" Wie ihr vielleicht wisst, bin ich Viktor Emanuel III., der König von Italien."
Auf einmal fiel mir wieder ein, was mein Vater mir gesagt hatte. "Morgen kommt der König persönlich zu uns.", hatte er gesagt, "Er will sich unser Schul- und Industriemodell ansehen."
" In ganz Italien ist diese Schule bekannt geworden und auch eure Väter, die in der Firma Baldelli arbeiten, sind sehr berühmt geworden. Ich besuche übrigens diese Klasse, weil hier der Sohn des Geschäftführers Manfred Hoffmanns dem Unterricht beiwohnt."
Jeder drehte sich zu mir um und schaute mich unverständlich an. "Woher weiß der König den Namen seines Vaters?", stand in ihren Gesichter geschrieben, "Und was macht Giorgio so wichtig?"
Ich schluckte und stand auf.
" Ich bin Giorgio Hoffmann, der Sohn von Manfred Hoffmann.", stammelte ich.
Ich sprach mit dem König, dachte ich mir. Das war etwas, was ich damals nie gedacht hätte.
" Hallo, Giorgio. Darf ich mich zu dir setzen und einer Unterrichtsstunde beiwohnen?", fragte der König.
Ich war geschockt. Der König fragte nach meiner Einwilligung. Der mächtigste Mann Italien fragte mich. Mich, einen kleinen, normalen Schüler.
" Sicher, Herr König.", sagte ich.
Der König schritt durch den Klassenraum und setzte sich neben mir auf die Bank.
Die Mädchen drehten sich um, als er vorbeischritt, und die Jungs versuchten einen Blick auf all die Medallien zu erhaschen, die er trug.
"Sie dürfen mit dem Unterricht fortfahren, Frau Lehrerin."
" Wie,...ähm, o...okay.", Frau Agnesi holte kurz tief Luft.
" Also Kinder, wie ihr hier seht....."
Ich bin dieser Unterrichtsstunde nicht mehr gefolgt, genauso wie meine gesamte restliche Klasse.
Alle Blicke waren am König hängen geblieben und niemand beachtete auch nur annähernd Frau Agnesi. Die Stunde ging viel zu schnell vorbei und das einzige, was ich noch hörte war:
" So Kinder, damit ist der Unterricht für heute beendet. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende."
Der König stand auf und bedankte sich bei Frau Agnesi für die schöne Stunde.
" Giorgio, würdest du mich bitte zu deiner Familie bringen?"
Ich stand mit weit aufgerissenen Mund dar. Jetzt sollte ich auch noch neben dem König in seiner Kutsche fahren. Langsam, aber sicher antwortete ich:
"Sicher. Wenn ihr es so wünscht."
Als ich aus dem Schulgebäude trat, sah ich bereits die prächtige Kutsche des Königs und alle Kinder der Schule schauten mich an, wie ich neben dem König über den Schulhof ging.
Mir war die Situation überaus peinlich, so herausgehoben zu werden, aber ich verstand zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was eigentlich passierte.
Wir erreichten kurz darauf die Kutsche und ich stieg ein. Diese Kutsche war sogar noch luxoriöser als unsere. Sie war vollkommen mit Stoff ausstaffiert und nur aus dem feinsten Holz gefertigt.
Der Kutscher fuhr sofort los, obwohl ich gar nicht gesagt hatte, wo unser Haus lag.
Der König sah meinen irritierten Blick und sagte:
" Ich weiß, wo du wohnst, Giorgio.Ich hatte mich informiert."
Er blickte wieder aus dem Fenster der Kutsche. Ich war komplett verwirrt und ich hatte das Gefühl, dass es mehr war, als bloß ein Besuch des Königs bei einem hohen Industriellen.
Knapp zwei Minuten später erreichten wir mein Zuhause. Ich stieg aus der Kutsche und sah etwa 50 Kavelleristen am Haus Wache halten oder patrollieren. Es war ein majestätischer Anblick, da alle Soldaten scheinbar hohe Auszeichnungen oder mindestens einen hohen Dienstgrad hatten. Ich ging schleunigst ins Haus, als der König noch ausstieg.
Mein Vater und meine Mutter, sowie Jolanda, meine 4 Monate alte Schwester – benannt nach der ersten Tochter des Königs – standen am Eingang, um den König zu empfangen.
" Wie war die Schule?", war die typische Frage, wenn ich nach Hause komme, aber die kam heute nicht. Ich legte meinen Ranzen schnell zur Seite und stellte mich zu meiner Familie. Als der König durch die Tür trat, verbeugten wir uns alle.
" Willkommen in unserer bescheidenen Haus, mein König.", sagte mein Vater formal.
" Sie müssen nicht so formal sein, mein guter Herr Hoffmann.", antwortete der König mit einem Lächeln, " Wie ich gehört habe, haben sie eine der besten Küchen Siziliens."
" Ja, mein König.", brachte mein Vater hervor.
" Nennt mich Vittorio.", bat der König.
Stimmt ja, dachte ich, mein Vater hatte ihn immer Viktor genannt, weil das der deutsche Name von Vittorio war.
Wir verbrachten eine lange Zeit gemeinsam im Speisesaal unseres Hauses.
Man sprach über vielerlei Dinge, aber alles Persönliches oder Belangloses.
Als der Abend sich dem Ende zuneigte, wandte sich der König an meinen Vater und es wurde auf Anhieb ein wichtiges Gespräch:
" Manfred, wie ihr wahrscheinlich mitbekommen habt, stehen sich derzeit im Fernen Osten Russland und Japan im Krieg gegenüber."
Ich erinnerte mich an den Verlauf des Krieges zwischen den beiden:
Am 8.2.1904 beginnt der Krieg zwischen Russland und Japan mit einem Überraschungsangriff auf die russische Basis Port Arthur. Port Arthur ist ein Flottenstützpunkt der russischen Marine am gelben Meer in der Nähe von Korea. Am 2. August begann die Belagerung der Stadt durch die japansichen Truppen. Dies führte zu Unruhen in Russland gegen den Krieg und der Zarenherrschaft.
Mit Beginn des Jahres 1905 kapitulierte die letzten Truppen in Port Arthur. Dies führt zur einer Revolution, welche blutig niedergeschlagen wird. Der Krieg verlief aber weiterhin nicht gut für Russland und sie verloren Anfang März die Schlacht um Mukden. Daraufhin errichtet der Zar eine Duma ( eine Art Staatsrat), um ein bisschen mehr Ruhe im Land zu erreichen. Dennoch kam es im Mai zu Ausschreitungen gegen Juden in Russland und Ende des Monats wurde die gesamte russische Flotte in der Seeschlacht bsi Tsushima vernichtet. Und erst vor einigen Tagen hatten Matrosen gemeutert und bekannten sich zum Kommunismus. Es war eindeutig, dass der König besorgt war.
" Japan hat den Krieg ganz eindeutig für sich entschieden, was aber für mich eine Gefahr darstellt, sind die russischen Unruhen. Ich muss als Staatsoberhaupt verhindern, dass dies auch auf mein Reich überspringt. Mein Vater, Gott hab ihm selig, starb auch durch einen Anarchisten und ich sorge mich, dass diese Probleme schon lange und tief im italienschen kopf eingebrannt sind. Hier muss du mir helfen, dass aus den Köpfen zu kriegen."
" Wie meinen... äh... meinst du das?", fragte mein Vater. Er sah nicht, wo er als Geschäftsführer eines Betriebes den italienischen Gedanken verändern könnte.
" Man muss die Menschen ablenken. Und womit kann man sie besser ablenken als mit Arbeit?"
Mein Vater erkannte, was Vittorio meinte: " Ihr unterstützt also meine Firma zu expandieren?"
"Nein, das meinte ich nicht."
"Was denn dann?"
"Ich will, dass ihr mein innenpolitischer Berater und Industriebeauftragter werdet."
"Aber ich hab keine Ahnung von Politik.", bestand mein Vater.
"Ihr sollt auch keine Politik machen, sondern dafür sorgen, dass meine Politik umgesetzt wird.
Werdet der Innenminister des Königs.", bot Vittorio an.
Mein Vater war begeistert und geschockt, dass würde einen immensen Aufstieg bedeuten, aber auch eine große Gefahr darstellen.
" Aber ich will meine Familie hier nicht alleine zurück lassen.", protestierte mein Vater.
"Natürlich, das kann ich verstehen.", sagte Vittorio und streichelte meiner Schwester über den Kopf, welche neben meiner Mutter schlafend lag.
" Deswegen würde ich euch erlauben, eure Geschäfte von hier aus zu führen. Was sagt ihr dazu?"