Am 18. April wurde von einer Schweizer Grenzpatrouille eine Person beim illegalen Grenzübertritt beobachtet. Die Soldaten gaben mehrere ungezielte Schüsse ab um die Grenzverletzung zu verhindern. Da die Person mehr als einen Kilometer in dem unwegsamen Alpengelände entfernt war, dauerte es fast 20 Minuten bis die Soldaten den Ort des Grenzübertritts erreicht hatten.
Der unbekannte Mann war nicht entkommen, sondern lag tot in einer Fichtengruppe. Aber nicht die Schüsse der Soldaten hatten ihn getötet. Wie später festgestellt wurde, hatte der Mann eine Zyankali Kapsel in den Zähnen. Ob er die Kapsel absichtlich oder durch Zufall auf der Flucht zerbissen hatte, ließ sich nicht mehr feststellen.
Die Papiere, die er neben großen Bargeldmengen in unterschiedlichen Währungen bei sich führte, wiesen den Toten als Heinrich Müller aus. Aber ziemlich schnell erwiesen sich die Papiere als gefälscht. Durch die Hinzuziehung deutscher Behörden konnte die wahre Identität des Toten ermittelt werden. Die Grenzer hatten Heinrich Himmler gestellt. Der ehemalige Reichsführer SS war tot.
Während der Südabschnitt der deutschen Russlandfront weiterhin verbissene Rückzugsgefechte führte, war im Nord- und Mittelabschnitt ab Anfang April 43 völlige Ruhe eingekehrt. Die deutsche Seite arbeitet am Ausbau der Verteidigungsstellungen und die Russen beschränkten sich auf gelegentliche Bombenangriffe gegen die Infrastruktur und die Belebung des Partisanenkampfes im deutschen rückwärtigen Gebiet.
Am 12. April waren Leute der Organisation Todt beim Stellungsbau am westlichen Zugang nach Smolensk auf Massengräber gestoßen. Als Ic der Heeresgruppe Mitte wollte Oberst von Gersdorff die Sache in der darauf folgenden Woche selbst untersuchen. Da er befürchtete, dass man auf irgendeine Hinterlassenschaft der Einsatzgruppen der SS gestoßen war, nahm er Hauptmann von Stargard mit um gegeben Falls möglichst rasch Maßnahmen einleiten zu können.
Knapp 20 km westlich vor Smolensk bogen sie von der Rollbahn Richtung Orscha – Minsk in den Wald ab. Den Kübel mussten sie gleich darauf abstellen und sie wurden von voraus geschickten Soldaten der Stabskompanie und einem Obertruppführer der OT zum Fundort geleitet. Der Frühling war mit aller Macht hereingebrochen. Die immer kräftiger werdende Sonne hatte nicht nur den Boden aufgetaut und die ersten Knospen platzen lassen, sondern sie sorgte auch dafür, das der Verwesungsgestank aus den Kieferwald sie lange erreichte, bevor sie die ersten Leichen sahen.
Als sie die erste Grube erreicht hatten wurde rasch klar, dass es sich bei den Toten nicht um Gefallene der heftigen Kämpfe im Sommer 41 handeln konnte. Die Leichen waren teils bereits skelettiert teils in starker Verwesung begriffen. Aber man konnte sofort erkennen, dass etlichen von ihnen die Arme gebunden waren. Manche hatten Säcke oder Stoffstücke über die Schädel gebunden, anderen war die Jacke um den Kopf gebunden worden.
Russische Bauern der Umgebung waren zur Arbeit verpflichtet worden. Sie hatten bereits eine mannstiefe Grube ausgehoben und hunderte von Leichen freigelegt. Sah man sich in der Gegend um, konnte anhand der Bodenspuren noch weitere Gruben vermutet werden.
Gersdorff räusperte sich und versuchte angesichts der nackten Schädel mit den leeren Augenhöhlen und den klaffenden Kiefern keine Schwäche zu zeigen. „Stargard, meinen Sie, das war die SS?“
„Schwer zu sagen.“ Freiherr von Stargard versuchte durch den Mund zu atmen, weil ihm der mörderische Gestank den Magen umdrehte. „Da müssen wir wohl erst die weiteren Untersuchungen abwarten.“
Der Obertruppführer trat an sie heran. Eine zernarbte Landsknechtsfresse, der wohl als alter SA Kämpe bei der OT untergekrochen war, um der Front zu entkommen. Er wies auf seine Hand in der er einige verschmutzte Patronenhülsen und zerbeulte Geschosse hielt. „Das sind Pistolenpatronen aber keine Parabellum. Ick sach ma, die Schweinerei haben die Russen angerichtet. Muss gewesen sein, bevor wir hier waren.“
Gersdorff nahm eine Patronenhülse und betrachte sie genauer. „Das ist kleiner als 9 mm. Das könnte die 7,65 Luger sein. Haben die Russen viel aber wir auch.“
„Herr Oberst.“ Brummte Stargard. „Schauen Sie sich die Masse von Toten an. Wenn unsere Leute das waren, müssen wir 7,92 Gewehrmunition und 9 mm Parabellum finden. Ich werd mal versuchen, mit den Leuten zu reden. Die sind ja aus der Gegend, vielleicht wissen die ja was.“
Ohne zu zögern stieg Stargard in die Grube hinab, obwohl der Gestank mit jedem weiteren Schritt beinahe physische Gewalt annahm. Er hob den Arm und rief „Delajet Pereruiw!“
Die Russen stellten das Buddeln ein und schauten misstrauisch auf den fremden Offizier.
Gersdorff sah verwundert zu wie der junge Hauptmann in der Leichengrube mit einem breiten Lächeln die Russen zu sich heranwinkte und leutselig mit ihnen zu sprechen anfing.
„Schto Wohnn!“ rief Stargard und begann Zigaretten auszugeben. Zuerst argwöhnisch, nahmen die Russen die Zigaretten gerne an. Mit einer fordernden Armbewegung schickte Stargard die bewaffneten OT Leute fort, die die Arbeiten überwachen sollten. Gleich darauf stand die ganze Traube Zwangsarbeiter am Grund der Grube und paffte. Dass die Zigaretten nicht für alle gereicht hatten, störte keinen. Die Stumpen gingen von Mann zu Mann. Stargard rief dann noch den Fahrer des Kübels zu sich hinunter und beauftragte ihn, die Wodkaflasche aus dem Auto zu holen. Mit der unbeschrifteten Literflasche voll klarer Flüssigkeit kam der Obergefreite zurück. Stargard machte den Anfang und dann ging auch die Flasche von Mann zu Mann.
Es dauert fast eine halbe Stunde bis Stargard wieder aus der Grube stieg. Den Obertruppführer forderte er auf, die Arbeiter anständig zu behandeln, denn der Ic bräuchte ihre Aussagen und daher ihr Wohlwollen. Dann deutete er Gersdorff an, dass sie sich entfernen sollten.
Auf dem Weg zurück zum Kübel platzte Gersdorff als erstes heraus: „Sie sprechen Russisch!? Das stand aber nicht in ihrer Akte!“
„Die Stargards haben über, mmh Jahrhunderte ins Baltikum eingeheiratet. Unsere Familienbande reichten bis nach Russland und sogar in die Ukraine. Daher auch mein Vornahme Taras. Und weil das so ist, werden die Stargardsprösslinge seit jeher mit Russisch traktiert. Mein Lehrer war ein russischer Graf, der am Ural Ländereien besaß die größer waren als Ostpreußen – behauptete er jedenfalls. Die Bolschwiken haben ihm alles genommen und während er unter Denikin diente auch noch die halbe Familien ermordet. Daher kann ich russisch – mit uralkosakischem Akzent.“
„Und, haben Sie was aus den Leuten herausbekommen?“
„Ja, habe ich.“ Stargard blieb stehen und atmete tief durch. Sie hatten den Gestank weit hinter sich gelassen und standen nun am Waldrand in der Frühlingssonne. „Das waren zumeist Leute aus Kosi Gori, einer Ansammlung von Hütten, nicht weit von hier am Dnepr. Sie erzählten, im April vor drei Jahren, wurden in Katyn, in der Bahnstation ein paar Kilometer die Straße runter, zahlreiche Pani herangekarrt. Sie meinen damit Polen, polnische Adlige und Offiziere.
Blaumützen, also Truppen des Innenministeriums, hätten damals hier im Wald mit Baggern Gruben ausgehoben und die, die Pani mit schwarzen Bussen hier her schaffen lassen. Und dann haben sie alle hier erschossen.
Die Leute sprechen von mehreren tausend Toten!“
Oberst von Gersdorff nahm die Schirmmütze ab und rieb mit seinem Taschentuch den ledernen Stirnschutz trocken. „Tausende Polen? Das müssen die polnischen Kriegsgefangenen sein, die die Russen 39 einkassiert haben.“ Er machte einige Schritte auf und ab du dachte angestrengt nach. „Mensch Stargard, wenn wir das groß raus bringen, sprengt das die Koalition gegen uns. Die Briten und die Amis können doch unmöglich noch zu den Russen halten, wenn rauskommt, dass die polnischen Soldaten hier hingemetzelt wurden. Wir müssen das ganz groß aufziehen, Kräfte müssen her, das muss bis ins Detail dokumentiert werden!“
Hauptmann von Stargard konnte die Begeisterung seines Vorgesetzten nicht teilen. „Was wollen wir denn den Alliierten sagen? Das die Russen das Gleiche gemacht haben wie wir?
Ich habe bereits schon mal an so einer Grube gestanden. Meine Einheit kam zufällig hinzu, als eine Sonderaktion abgeschlossen wurde. Da unten lagen hunderte nackte Männer und Frauen. Und neben mir standen die Letten und Ukrainer, die man in unsere schlecht sitzenden Uniformen gesteckt hatte. Ich hätte ihnen am liebsten das infantile Grinsen aus ihren hässlichen Visagen geschossen. Aber ich habe nichts getan. Ich habe am selben Abend mit ihren Offizieren gespeist und gesoffen bis ich ohnmächtig war.“
Taras von Stargard blickte starr in den Wald während er weiter erzählen musste.
„Ja Herr Oberst, ich habe mitgemacht. Ich weiß, dass der Kommissar Befehl nicht in allen Einheiten durchgesetzt wurde, weil viele ihn als unsoldatisch angesehen haben. In meiner Kompanie habe ich ihn durchführen lassen. Wir haben die Kommissare aussortiert und auch nicht so genau hingeschaut ob es Kommissare, Kommunisten, Komsomolzen, Juden oder einfach nur Leute waren, die man nicht leiden konnte. Ein einfacher Hinweis ihrer Kameraden hat genügt. Ich habe meinen Soldaten den Befehl gegeben, sie beiseite zu führen und zu erschießen.
Ich kann mich noch gut an den Einen erinnern. Der hatte seine Uniform nicht ausgezogen und seine Kragenspiegel wiesen ihn als Politruk aus. Der hatte keine Angst. Trotz seiner Verwundungen hielt der sich aufrecht und sah mir unerschrocken in die Augen. ‚Na du Hund‘ hat der mich angesprochen und ich verstehe ja alles. ‚Was willst du jetzt machen?‘ hat er gerufen. ‚Ich bin Kommissar, Offizier, Kommunist und Jude und du kannst mich nur einmal erschießen!‘
Ja Herr Oberst, ich habe mitgemacht.“ Dann schwieg er und seine Kiefern malten während er weiterhin in den Wald starrte.
Gersdorff sah den Hauptmann betroffen an. „Mensch Stargard, wer von uns ist denn ohne Schuld. Aber Sie haben sich entschlossen… Wir haben uns entschlossen genau deswegen zu handeln und diese Verbrechen nicht weiter zu dulden!“
„Richtig Herr Oberst!“ antwortete Stargard mit schwerer Stimme. „Aber das macht es nicht besser!“
Anfang Mai 43 ergab sich aus den Leichenfunden bei Katyn das gesamte Bild. Im Frühjahr 1940 hatten das NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) an mehreren Orten über 20.000 polnische Offiziere und Intellektuelle umgebracht. Polen war untergegangen und die Eliten wurden als Keimzelle eines nationalen Widerstandes identifiziert.
Außenminister Dufour von Féronce ließ internationale Beobachter vom Roten Kreuz und aus neutralen Staaten zu den Mordstätten führen. Er lud sogar die Kriegsgegner ein, Delegationen zu schicken und als die ablehnten, ließ er kriegsgefangene amerikanische und britische Offiziere die Ausgrabungen und Untersuchungen begleiten.
Eine Reaktion der Westalliierten blieb jedoch aus. Die Meldungen über den Massenmord wurden in Washington komplett ignoriert und es wurde weiter die bedingungslose Kapitulation gefordert. Nachdem General Władysław Sikorski, der Ministerpräsident der Exilregierung Polens und Oberbefehlshaber der polnischen Exilarmee, hartnäckig die Aufklärung der Morde und sogar den Bruch mit dem ungeliebten russischen Verbündeten forderte, war man in London sogar regelrecht erleichtert, als er bei einem Flugzeugunglück tragisch ums Leben kam.
Die russische Seite stritt die Morde selbstverständlich kategorisch ab. Moskau behauptete, das die Deutschen offensichtlich eigene Morde vertuschen wollen und das dieses propagandistische Manöver so durchsichtig wie erfolglos war.
Unter Verweis auf die stabilisierten Fronten und den sich angeblich abzeichnenden Bruch der antideutschen Koalition, streckte Dufour von Féronce seine Friedensfühler nun auch nach Moskau aus. Stalin sah sich durch die gewaltigen Gebietsgewinne seit Januar jedoch auf dem Vormarsch. Er wies die Waffenstillstandsvorschläge in einer Radioansprache öffentlich zurück und erklärte: ‚Dieser Krieg wird nicht durch eine gewissenlose Clique meuternder Junker beendet sondern durch die siegreichen Soldaten der Roten Armee, die ihr Ruhmesbanner in Berlin aufpflanzen werden!‘
Die Wehrmacht bekam nun von der Reichsregierung grünes Licht zu begrenzten Offensiven überzugehen. Den Russen sollten, unter Schonung der eigenen Kräfte, möglichst hohe Verluste zugefügt werden um ihnen die Offensivkraft zu nehmen und um sie friedensbereit zu machen. Auf der Kommandeur Besprechung der Heerführer der Ostfront wurde beschlossen, das die Heeresgruppe Süd die Mittel zu Verfügung bekommen sollte die Roten Armee in einer begrenzten Operation zu schlagen.