Kapitel 1 – Zukunftsvisionen
Willhelm III. von Oranien-Nassau, Herrscher von England, Schottland und Irland in Personalunion und Statthalter der Niederlande, blickte gedankenverloren aus dem Fenster seines Empfangszimmers auf die von Öllampen beleuchteten Straßen und schneebedeckten Dächer der Haupstadt seines Reiches. Seit 1689 war der Fünfzigjährige nun schon auf dem Thron der Inselstaaten und nie war die Regierung so unbeliebt wie zu jetzigen Zeitpunkt mit 46%, so seine königlichen Statistiker. Mit einem Seufzer erinnerte er sich an vergangene Zeiten.
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Als er mit seinen Truppen im November 1688 in Südwestengland landete, wurde er dort von der Bevölkerung begeistert aufgenommen. Seine freundliche Haltung gegenüber der Zivilbevölkerung sorgte für ein Überlaufen zahlreicher englischer Offiziere und Soldaten. Infolge Versuchen einer Rekatholisierung Englands vertrieb er, ein Holländer, auf Bitten der Whigs so seinen Schwiegervater Jakob II. ins französische Exil. Da sprach der Mob noch von einer Glorius Revolution und trug ihn auf Händen, als er der Bill of Rights zugestimmt hatte. Mit diesem Gesetz hatte das Parlament nun mehr Einfluss auf die Politik, der Parlamentarismus wurde somit erheblich gestärkt. Das merkte er auch schon bei der Doppelkrönung am 11. April 1689 in der Westminster Abbey, als das House of Commons an der Zeremonie teilnahm, und er und seine Frau Maria einen veränderten Krönungseid leisteten, welcher die Monarchen an das Parlament band. Bei diesem Gedanken huschte ihm ein leichtes Lächeln über sein Gesicht. Selbst nach so vielen Jahren konnte er sich noch immer an den Wortlaut des Eids erinnern.
„… to govern the people of this kingdom of England … according to the statutes in parliament agreed on, and the laws and customs of the same“
Seine Frau Maria kam ihn ins Gedächtnis und sein Lächeln erlosch. Nicht etwa, weil er ihr 6 Jahre nach ihrem Tod an den Pocken immer noch nachtrauerte - bei weitem gefehlt. Frauen bedeuteten ihm eher wenig. Die Heirat mit seiner Cousine, der liebevollen und treuen Prinzessin aus katholischen Hause, war damals rein politischer Natur, damit die protestantischen Staaten beruhigt wurden. Sie war zwar neben ihm Thronregentin, hatte jedoch an der Politik nur geringen Anteil. Selbst einen Thronfolger gebar sie ihm nicht, nach jeder der drei Fehlgeburten bekam sie tiefe Depressionen und suchte ihren Ausweg im Alkohol. Gott allein weiß, wie viel Pfund Sterling sie versoffen hat. Seit Dezember 1994 leitete er nun allein die Geschicke seines Reiches und die politische Situation, in der er sich nun befand, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Sein Blick senkte sich und seine Augen hafteten wieder an der Depesche, die er schon seit einer gefühlten Ewigkeit in seinen knöchernen Händen hielt und nun zum zweiten Mal las.
Eure königliche Hoheit,
Wie ihr es gewünscht habt, erfolgt hiermit mein Bericht über die finanzielle Situation des Landes in Bezug auf die militärische Einsatzfähigkeit. Mylord, wie ihr bereits wisst, strotzen die drei Königreiche nur so voller Baustellen und benötigter Reformen, sei es nun militärisch oder ökonomisch. Mit den dürftigen 7.500 Pfund Sterling der Staatskasse können wir dies unmöglich bewerkstelligen.
Zurzeit läuft der Handel mehr schlecht als recht, neben dem kargen Warenverkehr mit den 13 Kolonien in Übersee gibt es noch die Handelsabkommen mit Schweden, Portugal und den Vereinigten Provinzen. Insgesamt beläuft sich das Handelseinkommen auf knapp 2.000 Pfund, dazu kommen noch die Steuereinnahmen, welche sich mitsamt den Steuerabgaben aus dem Protektorat etwa 8.000 Pfund ausmachen. Insgesamt belaufen sich die Einkünfte auf 10.000 Pfund Sterling.
Sicher, Sire, dies ist schon eine große Zahl, doch bedenkt, dass davon die Ausgaben für das stehende Heer sowie die Flotte gedeckt werden müssen, von den Kosten der vor uns liegenden Bauprojekte einmal abgesehen. Die Kosten für das Militär verschlingen derzeit schon 50 % der zu Verfügung stehenden Mitteln.
Für das gesamte Jahr 1700 können wir somit nur 12.500 Pfund Sterling verplanen, vorausgesetzt die Ausgaben werden nicht höher. Wie eure Lordschaft es jedoch nur zu gut wissen wird, ist es angesichts der brodelnden politischen Lage eher sehr wahrscheinlich, dass die Ausgaben für das Militär innerhalb kürzester Zeit massiv steigen werden. Wenn wir nicht schleunigst etwas dagegen unternehmen, laufen wir Gefahr, unseren Finanzapparat bankrott zu wirtschaften.
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Bei den vielen Zahlen und Fakten wurde Willhelm III. leicht benommen, trat vom Fenster zurück und setzte sich auf den Stuhl hinter einem zwei Meter langen prunkvoll verzierten Schreibtisch aus Eiche, einem Geschenk des Königs von Hannover, nieder. Der König war mit seinen Gedanken so in den Brief versunken, dass er nicht merkte, wie seine majestätische Paradeuniform Falten und Knicke bekam, normalerweise hätte er bei jeder entstehenden Falte eine neue Uniform angezogen, denn er liebte makellose militärische Kleidung.
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Ich habe mich mit meinem Ministerium über etwaige Maßnahmen beraten und wir sind zu folgendem Schluss gekommen:
1. Es müssen weitere Handelsabkommen geschlossen werden, um den Warenverkehr zu erhöhen. Folgende Staaten kämen angesichts der politischen Lage in Frage: Preußen, Savoyen, das aufstrebende Marathenreich sowie Österreich. Leider mussten wir unseren Verbündeten Hannover von der Liste streichen, als wir erfuhren, dass dieser rückschrittliche König Georg Wilhelm I. den Ausbau der Siedlung Cuxhaven zum Handelshafen noch nicht veranlasst hat. Wie töricht, so entgeht ihm doch wertvolles Geld! Mit Verlaub, mein Herr, die Schatzkammer Hannovers ist ja auch nicht gerade prall gefüllt, wie ich aus zuverlässigen Quellen weiß.
Sein Blick streifte den Schreibtisch, kurz darauf musste er lächeln. Für einen überdimensionalen und - wie es scheint - sehr teuren Schreibtisch hat es ja anscheinend doch noch gereicht. Er wandte sich wieder dem Bericht zu.
2. Von Steuererhöhungen sollten wir ablassen, denn die Beliebtheit der Regierung ist ja derzeit schon auf einem historischen Tiefststand. Wir müssen vor allem ökonomische Bauvorhaben starten, z.B. die Webereien und Werkstätten auf den Inseln ausbauen, aber auch die Kolonien in Übersee nicht vergessen. Auf den Bahamas könnten wir eine weitere Plantage eröffnen und in Ruperts Land den Pelzhandel subventionieren.
3.Und nun zum heikelsten Punkt, dem Militär. Es gleicht einer Wahl zwischen Pest oder Cholera. Wenn wir in der jetzigen Lage die Truppen erhöhen, wird dies die Wirtschaft des Landes in den Ruin treiben. Wenn wir das Militär vernachlässigen oder gar abrüsten, laufen wir Gefahr, zwischen dem spanisch-französischem Mächteblock zerquetscht zu werden. Meine Berater und ich haben daher detaillierte Informationen zu den derzeit zur Verfügung stehenden Streitkräften von den zuständigen Ministern angefordert. Nach Durchsicht und Prüfung der Unterlagen sind wir zum erschreckenden Schluss gekommen, dass die Marine eher unterbesetzt ist. Wir können unseren Überseehandel nicht mit schwachen Schaluppen oder Briggs schützen. Es müssen auf jeden Fall stärkere Schiffe wie die Linienschiffe 4. Klasse gebaut und in den Dienst der glorreichen Royal Navy gestellt werden, diese kleinen wendigen Schiffe wie die derzeit im Dienst befindlichen Schaluppen sehen doch keinen Stich gegen die Freibeuterflotten, geschweige denn gegen die Armadas der Spanier und Franzosen.
Als wir die Unterlagen zur Armee durchgingen, kamen meine Berater ins Stutzen. Wir leben nunmehr im 18. Jahrhundert und unsere Soldaten kämpfen noch immer mit Piken? Derzeit sind 5 Infanterieregimenter dieses hoffnungslos veralteten und unterlegenen Infanterietyps im Dienste der Krone, die Kosten belaufen sich auf knapp 1.400 Pfund Sterling pro Jahr! Wir schlagen vor, entweder diese Truppen gänzlich zu entlassen oder die eine Hälfte von ihnen zu entlassen und den verbliebenen Regimentern eine militärische Umschulung auf moderne Waffen zu geben. Dies würde gleichzeitig die Kosten senken und die Effektivität der vorhandenen Truppen stärken.
Mylord, hiermit endet mein Bericht. Ich hoffe, dass wir unsere Nation aus dieser finanziellen Zwickmühle befreien können und verbleibe ihr ganz ergebener
John Smith
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Zufrieden legte er den Bericht auf den Schreibtisch. Auf seinen unbestechlichen Finanzminister war wie immer Verlass. Er war sowohl ein passabler Bankier als auch ein Kapitalist – allesamt Charakterzüge, die ihm für das Amt des Verwalters der Staatskasse prädestiniert hatten. Zwar störte ihn sein Fokus auf die Wirtschaft, denn ohne einen starken Militär gäbe es die Wirtschaft wohl gar nicht mehr, jedoch konnte er damit leben. Willhelm beugte sich zum Schreibtisch vor und nahm ein anderes noch ungeöffnetes Dokument hervor, welches das Siegel von George Clarke trug. Als der König das Siegel aufbrach und die Schrift erblickte, musste er auf Anhieb schmunzeln. Wie es scheint, geizt sein Kriegsminister nicht nur mit seinem Geld, auch mit seinen Worten geht der Stratege sehr sparsam um. Quasi genau das Gegenteil zu seinem Finanzminister, doch auch solche Leute brauchte die Krone.
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Euer Hochwohlgeboren,
Folgend beschreibe ich euch die derzeitige militärische Stärke unserer Armee. Verzeiht mir, dass ich dies nicht im Fließtext schreibe, als Auflistung erscheint es mir weitaus praktischer und informativer.
I. Korps unter Führung von John Churchill in London
2 Regimenter Milizinfanterie
2 Regimenter Pikeniere
1 Regiment Linieninfanterie
1 Regiment Yeomanry
1 Regiment Halbkanonen
II. Korps unter Führung von Henri de Massue in Dublin
1 Regiment Yeomanry
1 Regiment Pikeniere
1 Regiment Milizinfanterie
III. Expeditionskorps unter Führung von Kevin McDowell in Kingston
1 Kompanie Ranger (Ruperts Land)
2 Regimenter Pikeniere (Ruperts Land sowie Bahamas)
1 Regiment Linieninfanterie (Bahamas)
1 Regiment koloniale Dragoner (Bahamas)
1 Regiment Milizinfanterie (Jamaika)
1 Regiment Halbkanonen (Bahamas)
2 Regimenter Milizinfanterie
2 Regimenter Pikeniere
1 Regiment Linieninfanterie
1 Regiment Yeomanry
1 Regiment Halbkanonen
II. Korps unter Führung von Henri de Massue in Dublin
1 Regiment Yeomanry
1 Regiment Pikeniere
1 Regiment Milizinfanterie
III. Expeditionskorps unter Führung von Kevin McDowell in Kingston
1 Kompanie Ranger (Ruperts Land)
2 Regimenter Pikeniere (Ruperts Land sowie Bahamas)
1 Regiment Linieninfanterie (Bahamas)
1 Regiment koloniale Dragoner (Bahamas)
1 Regiment Milizinfanterie (Jamaika)
1 Regiment Halbkanonen (Bahamas)
Sire, ich weiß um unsere brisante finanzielle Lage aufgrund von Gesprächen zu Tee mit dem ehrenwerten Herrn Smith, jedoch ersuche ich euch um eine Verstärkung der Armee. Mit diesen Truppen aus Milizionären –nichts besseres als Polizeikräfte - und aus veralteten Halbkanonen und längst unterlegenen Pikenierregimentern kann man auf dem modernen Schlachtfeld keinen Sieg erringen. Sie taugen höchstens gegen die Wilden in der neuen Welt, gegen die Bedrohung der europäischen Mächte Frankreich und Spanien sind sie so gut wie nutzlos, höchstens Kanonenfutter. Was wir brauchen, ist gut ausgebildete Linieninfanterie & Berufssoldaten zu Pferde.
Mylord, ich weiß, wie sehr ihr die Pikeniere schätzt, waren sie doch ein Teil der Truppen, die euch vor über 10 Jahren bei der glorreichen Revolution begleiteten. Jedoch ist die Zeit, in der sich Truppen im Nahkampf entgegentreten, vorbei. In der Moderne zählt nun die Linientaktik – das Kämpfen wie Gentlemen, nicht wie Schlächter. Auch das Argument, dass sie unsere empfindlichen Musketenschützen gegen Kavallerie schützen könnten lasse ich da nicht gelten. Ich habe vor kurzem erfahren, dass an der Schule in Cambridge ein alter gebildeter Bürger und Akademiker namens Isaac Newton mit seinen Forschungen über einen Nahkampfaufsatz für die Muskete begonnen hat. Er rechnet damit, innerhalb nur eines Jahres eine Möglichkeit zur Abwehr von Kavallerieangriffen vorweisen zu können.
In Hoffnung, dass sie der Enthebung moderner und schlagkräftiger Linieninfanterie zustimmen, verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung,
George Clarke
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Der König ließ das Dokument auf den Tisch fallen, lehnte sich in den zugegebenermaßen unbequemen Stuhl zurück und stützte seinen unter der Fülle der Informationen schwer gewordenen Kopf mit seiner rechten Hand. Glücklicherweise hatte er zuvor mit dem ersten Lord der Admiralität John Egerton dinniert, somit wartete kein dritter Brief auf ihn, in dem man von einer mittelmäßigen Royal Navy hätte berichten können. Nein, dies war schon während des zugegeben köstlichen Dinners geschehen.
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Wie schon der Finanzminister in seinem Bericht erwähnt hatte, so war auch der strenggläubige und unbestechliche John Egerton, der eigentlich ein Verfechter jedweder Schiffsart war, der Auffassung, dass von den derzeit elf Schiffen die 4 Briggs und Schaluppen eher eine Verschwendung von Mannschaft und Material und vor allem von Pfund Sterling seien. Geld, Material und Matrosen, die der Marineminister liebend gern für den Bau von 4. Klasse Linienschiffen in den Schiffswerften in Portsmouth eingesetzt gesehen hätte. Insgeheim wird er beim Dinner wohl die Aussicht auf ein neues mächtiges Flaggschiff der Royal Navy als so schmackhaft empfunden haben, dass er seine Prinzipien kurz über Bord gehen hat lassen. Willhelm musste wieder lächeln - wie er sich wohl als Hofnarr bei diesen Wortwitzen geschlagen hätte?
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Langsam überkam ihn die Müdigkeit. Er blickte auf die monoton tickende Standuhr und stellte fest, dass er bei seinen Gedankenschweifen wieder einmal die Zeit außer Acht gelassen hat. Zeit, die sein Reich nicht hatte. Wobei die Bevölkerung schon immer die Ansicht vertrat, dass sie sicher schlafen können und sich keinerlei Sorgen um Invasoren oder Tyrannen aus fremden Ländern machen müssen, so wie es einst Shakespeare trefflich formulierte:
"...dieser in die Silber-See eingefaßte Edelstein, dieser kleine Inbegriff der Welt, dem der umgebende Ozean für eine Mauer oder für einen beschützenden Graben gegen den Neid nicht so glückseliger Länder dient..."
Allerdings, der Ärmelkanal und der Atlantik hielt die Franzosen und Spanier auf Abstand. Die Stärke seines Königreiches, so wurde es Willhelm III. in diesen Tagen klar, lag auf dem Meer. Sowohl als Handels- und Kolonialmacht als auch als Seemacht. Außerdem musste er die Entstehung einer Nation verhindern, die die Ressourcen von Europa vereint und als zentralisierte Kontinentalmacht die Existenz seines Reiches bedrohen könnte. Sein Ziel war es somit, sich auf die Seite der Schwachen in Europa zu schlagen und Front gegen die Starken zu machen - und dabei möglichst viele Überseebesitzungen zu stehlen!
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Doch zunächst musste er die Wirtschaft wieder ankurbeln um sich solch eine Großmachtstellung überhaupt finanzieren zu können. Er müsste wohl in den nächsten Tagen eine Vollversammlung seiner Regierungsmitglieder einberufen. Für den alten Mann galt es aber erst einmal, ins Bett zu gehen, denn auch ein König wird müde. In diesen jenen Zeiten träumte er schon von einem gewaltigen Reich, in dem die Sonne nie unterging…
[to be continued]