Der Seherin Spruch
Wodrin saß weit zurückgelehnt im Sattel und studierte das seltsame Stück Pergament in seinen Händen – zum Glück hatten ihn die Götter mit einer solchen Reitkunst ausgestattet, dass er sein Ross auch ohne Zügel zu lenken vermochte. Doch das Stück gegerbter Rindshaut verriet ihm auch bei dem gefühlt einhundertsten Mal, dass er es anstarrte, keine neuen Geheimnisse. Einiges war ihm jedoch schon aufgefallen: Insgesamt gab es 48 verschiedene Zeichen – wobei sie offenbar 24 Paare bildeten. Immer mindestens zwei dieser Zeichen bildeten eine Einheit die durch eine Leerstelle von der nächsten Einheit getrennt wurde. Wie der Mann aus
Hellas – wo auch immer dies liegen mochte – jedoch mit Hilfe dieser Zeichen seine Sprache sprechen konnte, das wollte Wodrin noch nicht recht in den Sinn kommen. Wirklich ein
Geheimnis diese Zeichen.
„Vielleicht solltest du es es lieber Wodan überlassen, dieses Geheimnis zu ergründen“, meinte eine Stimme neben Wodrin. Er sah auf und erblickte seinen Freund Adawulf neben sich, der an seine Seite geritten war. Er war wie Wodrin selbst 23 Jahre alt und mit dessen Cousine Childris vermählt.
„Walvater wird die Antwort kennen – nur wie bringe ich ihn dazu, sie mir zu verraten?“, antwortete der Fürstensohn und verstaute das Pergament wieder in seiner Satteltasche. Sie ritten gen
Rugen dem festen Thing- und Marktplatz der Rugier, des Stammes, dessen Verwaltung nun Wodrin oblag. Dennoch war er nicht Stammesfürst der Rugier. Aber da die Rugier seinem Vater als Teil der Stammeskoalition zur Heeresfolge verpflichtet waren, kamen ihn praktisch die selben Rechte zu. Rugen lag an der Küste der Östlichen See, gegenüber einer gleichnamigen Insel. Hier sollte er Männer anwerben, um sie gegen die Chatten zu führen. Begleitet wurde er von seinem Gefolge: 80 handverlesene Krieger seines Stammes.
„Glaubst du wir brauchen solche Zauberei, um gegen die Chatten zu bestehen?“, fragte Adawulf mit hochgezogener Augenbraue. Wodrin zuckte mit den Schultern. „Schaden kann es nicht, wenn wir der Seherin Spruch erfüllen wollen, schätze ich.“ „Du sagst es doch: Die Götter haben deinem Vater die Herrschaft über alle Stämme prophezeit. Ihr Heil ist mit ihm.“ „Sie haben meinem Großvater diese Herrschaft prophezeit. Und was hat er nun davon? Er ist zur Hel herabgefahren und wartet dort auf die letzten Dinge.“ „Einem solch großen Mann wie deinem Großvater ist sicher selbst in der Hel ein besonderer Platz zugewiesen“, zeigte Adawulf sich zuversichtlich.*
Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her, an den kleinen Hainen vorbei die hier in der Nähe der Küste überall verstreut standen. Dann fragte Adawulf: „Wie genau waren doch gleich die Worte der Seherin?“ Wodrin schickte einen Seufzer zum Himmel. „Du kennst sie, Adawulf, so gut wie jeder Mann, der hier mit uns reitet.“ Dabei drehte er sich zu dem Tross um. „Aber ich möchte sie noch einmal von dir hören. Du warst als einziger selbst dabei von allen Männern, die hier mit uns reiten.“ Wodrin sah versonnen einer Möwe nach, die über den Himmel zog. Es stimmte: Er hatte der Seherin Spruch selbst vernommen, obwohl er damals noch sehr jung gewesen war, gerade einmal vier Winter, hatte er schon erlebt.
Es war zum Feste der Nerthus gewesen, an dem jedes Jahr eine reich geschmückte Priesterin auf einem eben so prächtigen Wagen der Nerthus zu Ehren durch der Sueben Stammeslande zu fahren pflegte. Und immer hatte sie dies von Süden nach Norden - küstenwärst – getan. Doch dieses Mal war sie aus dem Osten gekommen. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit – denn normalerweise sprach sie kein Wort, wenn sie mit ihrem Wagen durch die Lande fuhr – hatte sie auf den Ort des Fastenthings, den die Suebenfürsten gerade abhielten, zugehalten. Wodrin hatte am Rand dieses Things, außerhalb des heiliges Bereichs, gewartet mit seinem Bruder Dorrin und das ganze Schauspiel miterlebt. Die Priesterin hatte ihre Rosse erst kurz vor dem Thingplatz angehalten, war vom Wagen gesprungen und hatte ihre Worte gesprochen.
„Nun sprich schon, Wodrin, mein Freund. Wie waren ihre Worte?“
Und Wodrin antwortete: „Gehör heisch ich unter den Söhnen Heimdalls, höherer und minderer Geschlechter. Schon lange handeln sollen, hättest Fürst der Sueben du, denn schon überschritten haben sie den Fluss und verlassen die Lande die ihnen die Götter wohl angewiesen. Gönnen den Hohen ihre Säle nicht, gönnen den Minderen ihre Lager nicht. Um wie der große Wurm Midgard zu umgürten ziehen sie aus; kämpfende Männer stahlgewandet. Dann muss Eid brechen, muss Schild brechen, muss Schwert brechen, wenn die Tore der hohen Burg aufgestoßen werden und die Söhne Heimdalls vergießen ihr eigen Blut, dann muss fallen der Bruder von des Bruders Hand, der Vielbeweinte. Dem Lindwurm gleich werden sie sich walzen durch die Hainen hin zu den Küsten wo Ask und Embla erwacht. Doch eins sollen sie fürchten wenn solches geschieht, die trollgestalteten die dem Muspell entronnen, dass die Söhne Heimdalls geeint sich regen, Seite an Seite zur Walstatt hin. So unternehm dies hoher Fürst der Sueben, wenn der Götter Rat du befolgst, eine die Völker von Heimdalls Söhnen mach dir zu eigen ihr Land. Dann wird verhindert der Walgötter Sturz wenn unter deinem Banner du wohl vermagst zu einen die Stämme aus Lodurrs Atem und Hönirs Hand.“
Seine Stimme hatten einen tiefen beschwörenden Klang angenommen, als er diese Worte gesprochen hatte und er hatte kaum auf seine Umgebung geachtet, so dass er einigermaßen überrascht war, plötzlich das Meer rauschen zu hören.
„Also hat die Seherin nur vom Fürsten der Sueben gesprochen, nicht davon, dass es Roderich Fürst der Sueben sein müsste“, folgerte Adawulf „Ich würde lieber wissen, wen die Seherin mit
sie gemeint hat.“, antwortete Wodrin. Sein Freund überging die Frage und sagte stattdessen: „Wir sind da.“ „Es ist klein“, waren Wodrins erste Worte.
Nun bauten die Germanen in jener Zeit keine großen Städte und feste Burgen, wie es andere Völker taten und die meisten von ihnen lebten über das Land verstreut auf kleinen Gehöften, doch von dem großen Thingplatz der Rugier, hätte sich Wodrin mehr erwartet. Ein, vielleicht zwei Dutzend Häuser standen hier um den Hügel verteilt. Das einzige Gebäude, das herausragte war eine Art Versammlungshalle, wo sich offenbar die Großen des Stammes trafen und berieten ehe sie zum Thing schritten oder wo sie hernach in geselliger Runde zusammensaßen.
Wodrin ritt voraus, bis er die Grenze der Ansiedlung erreicht hatte. Dann sprang er vom Pferd und schritt den Hauptweg entlang, der zum eigentlich Thingplatz führte. Adawulf und seine übrigen Männer folgten ihm in einigem Abstand. Ein untersetzter Mann begrüßte ihn auf der Kuppe des Hügels. Er war Hanarr, Fürst der Rugier, doch wenig vermochte er bei seinem Volk, im Krieg wie im Frieden. Seine ehemals feuerroten Haaren färbten sich langsam weiß, wie die Gischt die an die Küste schlug oder die Kreidefelsen die hier aufragten. „Heil Euch, Wodrin. Sohn des Armin, Fürst der Sueben!“, grüßte Hanarr ihn. Es waren nur acht Männer bei ihm, die offenbar sein Gefolge darstellten.
Das sah Vater ähnlich: Dorrin bekam die Vormundschaft über die Kimbern und Teutonen – beides mächtige Stämme – zugewiesen und er, Wodrin? Er musste mit den Rugiern zurecht kommen, ihrem schwachen Fürsten und ihrem ärmlichen Thingplatz. Doch er rief sich seine Pflichten in Erinnerung und grüßte freundlich zurück: „Auch Euch Heil, Hanarr, Fürst der Rugier und Euren Männern.“ Mittlerweile hatte sich auch Wodrins Gefolge hinter ihm aufgebaut. Alle zu Pferde, der Fürstensohn war als einziger abgestiegen. Adawulf führte sein Pferd am Zügel. „Bringt mich und meine Männer in Eure Halle, Hanarr, damit wir alles besprechen können“, bat Wodrin.
Also ging der Rugierfürst voraus in die kleine Versammlungshalle. Drinnen war kaum Platz für 60 Mann, sodass ein Teil von Wodrins Männern vor der Halle warten musste. Wodrin saß zur Rechten des Fürsten.
„Ihr wisst, warum ich hier bin Hanarr. Als Fürst der Sueben und Haupt der Stammeskoalition fordert mein Vater Heeresfolge von den Rugiern. Seid ihr bereit, sie ihm zu gewähren?“, erkundigte sich Wodrin. „Natürlich“, antwortete Hanarr eilfertig. „die Chatten mögen für ihren Meineid büßen.“ Ein leichtes Lächeln huschte über Wodrins Gesicht. Zumindest an diesem Punkt lief alles glatt. „Wie viele Mannen könnt Ihr uns zur Verfügung stellen?“ „Einen ganzen Bann Speerträger!“, verkündete der Fürst stolz. „Was!?! Ein Bann, mehr nicht?“, stieß Wodrin entsetzt aus. „Das sind beinahe 500 Krieger**“, suchte der Fürst sich zu verteidigen. „500 Mann? 500 Mann? Die Chatten werden tausende ins Feld führen. Wie lange werdet ihr brauchen um mehr Krieger einzuberufen?“ „Ich fürchte, das ist im Moment nicht möglich. Die Männer müssen lernen in Reih und Glied zu kämpfen. Das bringt ein Mann nicht von selbst. Aber leider fehlen uns dazu Ausbilder; ganz zu schweigen und von einem Aufmarschplatz oder etwas derartigen.“
„Mir wird schlecht“, verkündete Wodrin und er sah tatsächlich eindeutig blasser um die Nase aus, als noch vor wenigen Augenblicken.
Rugier... zur Hel mit diesem Stamm. „Gibt es hier ein Heiligtum Wodans? Ich würde gerne beten.“ „Nein – und auch sonst keines.“
Wodrin vergrub das Gesicht in den Händen. Schließlich sprach er. „Nun gut! Als Stellvertreter meines Vaters, fordere ich Euch auf, Hanarr an diesem Platz unverzüglich ein Heiligtum für den Walvater und einen Aufmarschplatz für die Männer zu errichten.“ „Ich entscheide, was auf meinem Stammland gebaut wird!“, polterte der Fürst, doch er hielt Wodrins energischem Blick nicht stand. „Und was wäre“, fragte der Fürstensohn betont ruhig. „Wenn ich den Bau dieser Gebäude bezahlen würde?“ „Dann... würde ich zustimmen – schließlich kann ich Wodan keinen Schrein abschlagen“, antwortete der Rugierfürst schließlich. Wodrin nickte. Bei diesem Stamm würde sich noch einiges ändern müssen, ehe er der Stammeskoalition wirklich nutzen konnte.
Eine Weile später wurde das Essen aufgetragen. Es war überraschend gut, wenn auch ein wenig fischlastig. Dennoch war Wodrin immer noch düsteren Sinnes. Bis der Met kam.
Ein junges Mädchen, von vielleicht 16 oder 17 Jahren, reichte ihm ein Trinkhorn mit versilbertem Rand. Der Met war köstlich, doch war es nicht das, was seine Laune besserte. Die Maid hatte wunderschönes gelocktes Haar, das glänzte wie ein frisch geschmolzener Batzen Gold. Ihre Haut war weiß wie Schwanengefieder und die Augen gleich Lapislazuli. Wodrin war noch nie ein Kostverächter gewesen, das Frauen anging, doch diese ließ sein Herz einen Schlag lang aussetzen, als sie sich lächelnd vorbeugte und ihm das Trinkhorn reichte. Nachdem sie wieder verschwunden war, wobei Wodrin ihr recht ungeniert nachgesehen hatte, fragte er den Rugierfürsten: „Hanarr, könnt Ihr mir sagen, wer dies Mädchen ist, dass den Met gebracht hat.“ Der Rugierfürst nahm einen großen Schluck. „Na sicher! 's ist meine Tochter Alwit“, tönte der Fürst, auf den Met offenbar schon zu wirken begann.
Nun, dachte Wodrin,
vielleicht war doch nicht alles schlecht bei den Rugiern
Kommentare
Nur falls sich jemand wundert: Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Vorstellung von Valhall sich frühestens in der Völkerwanderungszeit verbreitet hat - diese Geschichte jedoch über 600 Jahre früher ansetzt.
Ich spiele zwar schon mit größtmöglicher Einheitenzahl, habe aber aus dramaturgischen Gründen die Zahl aller Soldaten im AAR noch einmal verdoppelt. Eine Speerträgerbande besteht auf der Größe Riesig aus 240 Soldaten. 240*2=480~500 Damit würde ein Fullstack Legionäre auch ungefähr der Größe einer Legion entsprechen, nämlich: 20*161*2=6440