Europa Futura

Die AAR der anderen Art...

Moderator: Moderatoren

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 8. Juni 2012 19:26

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
5. Szene


Patrick und Borsti saßen auf einer versifften Couch und starrten die Tür an. Sie hatten sich für heute in einem Jugendheim am Müggelsee einquartiert. Offenbar war seit dem Mauerfall hier nicht mehr renoviert worden - oder geputzt. Nachdem die beiden sich von dem mürrischen Besitzers des Bungalowparks einen Schlüssel haben geben lassen und ihre Bleibe inspiziert hatten, hatte Patrick im ersten Moment gegen einen Brechreiz ankämpfen müssen - und er hatte einen starken Magen.
Tatsächlich war es in den ganzen Wochen, in denen Patrick nun schon in Nordostdeutschland umher zog um nicht gefasst zu werden, die bisher schlimmste Unterkunft gewesen. Allerdings überraschte es ihn nicht: Seine Unterkünfte waren mit der Zeit immer ekliger geworden. Allerdings, dachte Patrick bitter, passte das wohl zu ihm, denn er war in den letzten Wochen auch immer ekliger geworden.
Durch das ständige umherziehen hatte er seine Hygiene auf ein Minimum reduzieren müssen. Was im Klartext soviel hieß wie: Hintern abwischen und Zähneputzen. Seit drei Tagen war er, nachdem er fast 2 Wochen langen in Brandenburg umhergezogen war, wieder in Berlin. Da er in dieser Zeit bei Brian untergekommen war, hatte er die Zeit gehabt sich ordentlich zu waschen, zu kämmen, zu rasieren und er hatte sich sogar von Brians Frau die Haare schneiden lassen. Das Ergebnis war nicht perfekt, aber er sah wieder einigermaßen vorzeigbar aus.
Nachdem Patrick und Borsti das Zimmer in stundenlanger Arbeit bewohnbar gemacht hatten, hatten sie sich zusammen gesetzt und den Ablauf des heutigen Abends geplant. Als alles besprochen war, was doch recht schnell gegangen war. Hatten sie sich bei einer Flasche billigem Cognac über ihre Situation unterhalten. Auch Borsti hatte ein Nomadenleben aufgenommen. Den beiden gefiel die Situation nicht. Nicht nur wegen der ganzen Unannehmlichkeiten, die sie mit sich brachte. Borsti hatte ausgesprochen, was Patrick schon lange gedacht hatte: "Da stimmt irgendwas nicht! Ich meine es kann doch nicht sein, dass es reicht alle paar Tage den Schlafplatz zu wechseln um den Bullen auf Dauer zu entkommen."
Auch Patrick machte sich da so seine Gedanken. Tatsächlich waren schon mehrere Mitglieder seiner kleinen Gruppe verhaftet worden. Zwar hatte man sie meist nur zu kleinen Strafen wegen irgendwelcher Vergehen verurteilt - noch galt offiziell die Meinungsfreiheit - aber er hatte erwartet, dass sie mittlerweile wussten, dass er der Kopf dieser Leute war, dass und besonders scharf darauf wären, ihn in die Finger zu kriegen. Ihm war etwas mulmig. Schließlich hatte er für heute Abend an die 80 Leute eingeladen.
Es wurde Zeit und wie auf ein geheimes Zeichen hin standen Patrick und Borsti gleichzeitig auf und gingen zur Tür. Der Schein der untergehenden Sonne leuchtete rot auf dem Müggelsee, als sie zu dem Speisesaal, der ein eigenes Gebäude war, herüber gingen. Es war der größte Raum im Bungalowpark, deshalb hatten sie ihn für ihr Treffen ausgesucht. Nachdem sie vom Eigentümer die Erlaubnis - oder besser die Gleichgültigkeit - eingeholt hatten, räumten sie sämtliche Tische heraus und stapelten sie hinter dem Gebäude.
An der Rückwand der Raumes gab es so etwas wie eine kleine Bühne - kaum kniehoch. Dorthin trugen die beiden das vergammelte Sofa, auf dem sie zuvor schon gesessen hatten, und einen massiven Couchtisch. Derweil trudelten die ersten Gäste ein. "Patrick und Borsti?", fragte eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, das Patrick noch nie gesehen hatte, beim Reinkommen "Jaja, das sind wir!", meinte Borsti übertrieben schwungvoll "Die Zweimann-Résistance, sozusagen." Dann ließ er sich auch das Sofa fallen, das besorgniserregend quietschte und wandte sich an Patrick. "Wenn das so läuft wie wir uns das vorgestellt haben, Paddi, dann wird das ne geile Show heute Abend. Wir sollten uns echt überlegen ob wir damit auf Tourné gehen sollten." Patrick ließ ein verkniffenes Lächeln aufblitzen und sich ebenfalls auf die Couch sinken. Zu Borsti meinte er: "Da wird bestimmt geradezu legen... warte es kommt gleich... där!" "Oh Gott! Hast du dir wieder Sendungen aus den 10ern reingezogen?" "Was? Das war meine Jugend!"
So ging das Gespräch noch fast fünfzehn Minuten weiter bis sich der umfunktionierte Speisesaal endlich zur Genüge gefüllt hatte. Unter den Anwesenden waren viele Leute der ersten Stunde, doch nicht alle. Conor war, was man so hörte unter Arrest gestellt und von Matthias, dem einzigen Nicht-Iren aus Patricks alter Gang, hatte er schon lang nichts mehr gehört. Mit gewissem Erstaunen jedoch erkannte er Phillip in der Menge.
Patrick und Borsti sahen sich an, nickten und standen dann synchron auf. "Meine Damen und Herren!", begann Patrick, den typischen Tonfall eines Moderators nachäffend. "Ich denke sie wissen alle wer wir sind und<" "Und was wenn sie es nicht wissen?", fragte Borsti in der selben Sprechweise. "Na dann erklären wir es ihnen!", gab Patrick mit einem übertriebenem Lächeln zurück. Leichtes Gekicher im Raum. "Ich bin Patrick und das ist mein äußert gut aussehender Co-Moderator Borsti! Sag Hallo, Borsti!" "Hallo!" "Wir sind vor allem durch unsere gezielte Informationskampagne in den letzten Monaten bekannt. Kann man das so sagen?", fragte Patrick und die Art wie er redete war mittlerweile zu der eines Verkäufers einer Teleshopping-Show übergegangen. "Durchaus, Patrick!", antwortete Borsti und untermalte das Ganze mit übertriebener Gestik. "Leider sind dieser Kampagne bisher viel zu wenige Taten gefolgt, doch meine Damen und Herren, wir haben neuen Zündstoff", plapperte Patrick und zog einen dicken zusammengehefteten Stapel Papier unter dem Couchtisch hervor. "Ladies and Gentlemen! We proudly present: Fishers Reformprogramm!", rief er und fuchtelte mit der Akte. "Aber", warf jetzt Borsti ein "uns ist aufgefallen, dass manche der tollen Änderungen die hier drin stehn ziemlich kompliziert formuliert sind. Also haben wir uns mal die Mühe gemacht eine Präsentation vorzubereiten. Sie trägt den Namen: Deutsch - Fisher; Fisher - Deutsch.
Die beiden setzten sich wieder. "Fangen wir doch mal direkt bei der Präambel an!", begann Patrick und las laut vor: "Die empirische Beobachtung zeigt uns, dass der alleinige Gradmesser für die Zufriedenheit eines Volkes dessen Wohlstand ist. Der Wohlstand schafft Sicherheit, Güter und verhilft dem Volk zu Ansehen. Die nachfolgenden Reformen haben damit allesamt ein und dasselbe Ziel: Die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik Deutschland anzukurbeln.... Borsti, das klingt doch sehr gut. Würdest du uns das mal übersetzen?" "Sicher! Was Fisher uns hier sagen will ist: Geld ist das einzige auf der Welt, was glücklich macht, also zeigt euch der Papa Fisher jetzt mal, wie man Kohle scheffelt" Gelächter erhob sich im Saal. Doch Patrick hob nur eine Augenbraue und fuhr dann fort.
"Nun, dann sehen wir uns mal an, wie das mit der Wirtschaftskraft klappen soll. Zäumen wir den Gaul von hinten auf und fangen mit Artikel 24 an: "Die Sozialabgaben müssen aus Gründen der sozialen Verträglichkeit so weit reduziert werden, dass der Empfänger solcher Hilfen von den Anschaffungen nicht unbedingt notwendiger Güter abgehalten wird und sich für ihn der Anreiz bietet, sich intensiver nach einer Arbeitsstelle zu erkundigen"... Borsti?" "Im Klartext: "Wir geben euch faulen Pennern von Harz IV Empfängern nur noch so viel, das es grade zum Überleben reicht, damit ihr jeden Job annehmt, den man euch anbietet" Diesmal lachten weniger. "Weiter im Text! Artikel 25: "Sollten sie keine geeignete Beschäftigung finden, so steht der Staat bei der Suche nach einer solchen zur Verfügung und findet sinnvolle Beschäftigungen" "Oder: "Wenn ihr Penner immer noch nicht malochen geht, finden wir halt ne Zwangsbeschäftigung für euch!" "Ähnliches für den Abschaum der Gesellschaft Artikel 12: "Gerade Staftäter verursachen beim Staat oft horrende Kosten. Um dem entgegenzuwirken und um einen Wiedereinstieg in die Arbeitswelt zu erleichtern werden zukünftig Inhaftierte vollzeitig mit gemeinnützigen Tätigkeiten betraut." "Auf Deutsch heißt das: "Wer braucht schon Gefängnisse, wenn er auf Arbeitslager haben kann?" "Schon für die Kleinen wird gesorgt, in Artikel 2: "Von Staatsseite aus ist Sorge zu tragen, dass schon in der Kinderpädagogik Themen und Inhalte primär nach der Nützlichkeit in der Wirtschaft ausgewählt werden." "Vergesst Kunst, Geschichte und den ganzen anderen Scheiß! Wir lehren nur noch was den größten Profit verspricht" "Ja und das wird in Artikel 3 konsequent weitergeführt: "Sollte sich zeigen, dass Fachkräfteangebot nicht mit dem Bedarf übereinstimmt, so liegt es am Staat regulierend einzugreifen und Bürger mit der passenden Bildung in Berufe zu bringen, bei denen ein Mangel herrscht" "Freie Wahl, was ihr lernen, studieren oder arbeiten wollt? Ne ne! Papi Staat sagt euch ab jetzt euren Beruf, damit auch ja immer genug Fachkräfte in der richtigen Branche da sind." "Und jetzt kommen wir zu meinen beiden Favoriten: Artikel 1 : "Aus diesem Grund" siehe Präambel "ist sozialunverträgliches und finanzdefizitäres Verhalten eindeutig ein Angriff auf den Staat und deshalb als Straftat anzusehen" "Mit anderen Worten: "Wer zu wenig Kohle bringt oder zu viel kostet kommt in den Knast. Und was man ab jetzt mit Knackis macht, daran erinnert ihr euch ja hoffentlich noch." "Aber jetzt!", sagte Patrick und erhob dramatisch die Stimme "Jetzt kommt der absolute Knaller! Das Beste kommt eben immer zum Schluss. Letzter Artikel, Nummero 28: "Gerade in der heutigen Wirtschaft ist oft schnelles Handeln gefragt. Eine entsprechende Geschwindigkeit kann durch langwierige Abstimmungsprozesse häufig nicht gewährleistet werden. Daher kann im Notfall der Sonderbeauftragte" Also der gute Herr Fisher "notwendige Entscheidungen auch ohne Zustimmung einer Mehrheit im Parlament treffen" "Was das eigentlich meint ist natürlich: "Scheiß auf Demokratie! Ich hab das Geld und die Macht und wenn ihr nicht spurt, dann mach ich hier den Diktator"
Diesen Worten folgte Stille. Patrick und Borsti ließen die Anwesenden eine Zeit lang über das soeben Gehörte nachdenken, ehe Patrick sagte: "Also ich denke wir sind uns einig, dass es 5 vor 12 ist und damit höchste Zeit zu harten Bandagen zu greifen. Mir fallen da spontan zwei Arten von Widerstand ein:... "
Während er von seinen Plänen erzählte bemerkte Patrick nicht wie die Zeit verging. Genauso wenig, wie er die unbemannte Sonde bemerkte hatte, die ihm seit 3 Tagen in sicherem Abstand gefolgt war...
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 20. Juli 2012 16:16

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
6. Szene


"... notwendige Entscheidungen auch ohne Zustimmung einer Mehrheit im Parlament treffen." Margit hatte zu Ende gelesen. Sie seufzte zweimal, dreimal. Dann stand sie auf und kochte sich Tee. "39% Prozent!", schimpfte sie. Hätte sie, doch noch einen Monat gewartet, einen Monat, dann hätte sie sicher ein besseres Ergebnis erzielt. Hätte sie gewusst, dass der Premierminister eine solche Verwaltungsreform geplant hatte, dann hätte noch etwas abgewartet, ehe sie ihre Pläne zur Abspaltung der Isle of Man von Großbritannien vors Parlament gebracht hätte.
Vor allem auf ihre Kollegen war Margit stinksauer. Am Anfang hatten ja alle für ihren Vorschlag gestimmt, oder zumindest dafür einen Volksentscheid über diese Frage abhalten zu lassen. Doch auf einmal fiel ihnen allen ein, dass das ganze eine dumme Idee gewesen sei, die sowieso zum Scheitern verurteilt war. Margit sah aus dem Fenster. Selbst hier auf der Isle of Man konnte man die Folgen der immer noch anhaltenden Konjunkturkrise sehen. Die hübschen Vorgärten war längst nicht mehr so pikfein wie früher und immer öfters sah sie in Douglas Leute vor dem Arbeitsamt lungern.
"Dabei war ich mir so sicher, dass die Leute auf alle auf meiner Seite sein werden. Und nicht nur 39% der Leute. Ich meine: Wir unterscheiden uns doch völlig von den Engländern", sagte Margit sich selbst und goss sich Tee ein.
Am späten Nachmittag, nachdem sie ihre beiden Katzen gefüttert hatte, wollte sie einen kleinen Spaziergang durch Ramsey machen um ihre Sorgen zu vergessen. Es war der 30. April, die Vögeln sangen und die Sonne leuchtete von einem makellos blauem Himmel herab. Eigentlich ein herrlicher Tag - eigentlich.
Nachdem sie etwas eine Stunde gegangen war, taten ihr die Füße weh und so setzte sie sich in ein Straßencafé und bestellte sich eine große Tasse Cappuccino. Der Kaffee war noch nicht da, da fielen ihr zwei Männer auf, die sie vorher noch nie gesehen hatte. Das heißt in all den Jahren, die sie schon in Ramsey lebte hatte sie diese Männer nie gesehen, doch an jenem Tag bemerkte sie sie schon zum dritten Mal. Die Männer saßen zwei Tische und ihr entfernt und schwiegen sich. Erst hatte sie sie Touristen gehalten, doch irgendetwas an ihnen war reichlich seltsam.
Der Cappuccino kam und Margit trank ihn mit großen Schlucken leer. Da fiel ihr noch jemand auf. Ein junges Pärchen, das sie ebenfalls heute das erste Mal gesehen hatte. Sie saßen ihr gegenüber und plauderten angeregt. Margit schüttelte den Kopf. Jetzt sah sie schon Gespenster. Diese beiden waren ganz sicher Touristen, vermutlich Engländer, wie Margit an ihrem Akzent erkannte.
Nachdem sie ihren Kaffee bezahlt und ausgetrunken hatte wartete sie noch etwa fünf Minuten, dann stand sie auf und ging hinunter zum Strand. Als sie sich nach vielleicht 200 Metern noch einmal umdrehte sah sie, wie die beiden Männer aufstanden. Das Pärchen saß noch da, wo es vorher gesessen hatte. Margit wurde mulmig zu Mute. Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie den Hafen erreichte, obwohl sie hier heute schon zweimal vorbeigekommen war. Sie blickte sich um. Die beiden Männer kamen hinter ihr die Straße entlang. Jetzt wurde sie panisch. Sie bahnte sich ihren Weg durch eine kleine Gruppe gerade angekommener Touristen, riss ein junges Paar auseinander ohne ihnen einen Blick zu schenken, begann dann zu rennen. Durch eine kleine Seitenstraße, dann einen Privatweg entlang und zwischen zwei Hecken hindurch, bis sie keuchend in der Straße stand in der sich ihr Haus befand. Sehr gut, dachte Margit, nachdem sie sich umgesehen hatte, ich habe sie abgehängt.Nichts wollte sie jetzt sehnlicher als zurück in ihr Haus zu laufen und die Türe hinter ihr zu schließen, doch dazu sollte es nicht kommen.
Sie war keine fünf Schritte gegangen, da ergriff sie von hinten eine Hand. Erschrocken fuhr sie herum und erblickte das Gesicht des Mannes und der Frau, die sie im Café für ein harmloses gehalten hatte. Die Frau hielt ihr einen Ausweiß unter die Nase "MI5", sagte sie barsch "Mitkommen und verhalten sie sich unauffällig." Die beiden nahmen Margit in die Mitte und führten sie in ein verfallendes Hotel am Rande der Stadt. Die Rezeptionistin schlief tief und fest als sie über die schmutzigen Kacheln des Eingangsbereichs zu einer knarzenden Treppe gingen. Am Ende dieser Treppe befand sich ein Flur mit vergilbter Tapete. Vor Zimmer 23 blieben sie stehen. Der Mann schloss auf und die Frau schubste Margit hinein, sodass sie fast gestürzt wäre. "Setzen!", befahl der Mann und zog ihr einen pompösen, aber abgewetzten Stuhl heran. Margit tat wie ihr geheißen. Eine Minute lang sagte niemand ein Wort.
"Sie wissen warum sie hier sind?", fragte der Mann. "Sie wollen mein Geld?", fragte Margit spitz. "Nicht ganz", sagte der Mann und zog sich ebenfalls einen Stuhl heran. "Das MI5 steckt im Moment nicht in Geldnöten?" "Das irgendetwas in England nicht in Geldnöten steckt wundert mich ehrlich gesagt", brachte Margit verächtlich hervor. Für eine kleine, etwas rundliche Frau Mitte vierzig, die darüber hinaus auch noch in einer recht prekären Situation war, benahm sich Margit doch recht aufmüpfig. Zu aufmüpfig für den Geschmack des MI5-Agenten, denn er blaffte: "Schnauze!" Als er sich sicher war, das Margit nichts mehr sagen würde fuhr er etwas freundlicher fort: "Margit Averloue, sie wurden 82 hier in Ramsey geboren?" Margit schwieg. "Sie sind die älteste Muttersprachlerin von Manx, nicht wahr?" Keine Antwort. "Nun Margit, ich kann sie ja gut verstehen. Sie wachsen hier auf und um sich überhaupt mit den Menschen in ihrer Umgebung unterhalten zu können müssen sie eine komplett andere Sprache lernen." "Ich bin bilingual aufgewachsen, also keine Angst", unterbrach Margit ihn kühl "Wie auch immer! Sie wachsen also hier auf und es setzt sich bei ihnen halt die Idee fest, dass die Bewohner der Isle of Man ganz grundverschieden von anderen Bewohner Großbritanniens seien." "Sicher!" "Margit, Margit, Margit!", machte der Mann und schüttelte den Kopf mit einer übertriebenen Geste. "Die Isle of Man hat doch schon so viele Sonderrechte. Was wollen sie denn eigentlich noch?" "Was wollen sie?", fragte Margit und versuchte nicht hysterisch zu klingen. Die Situation machte ihr mehr Angst, als sie zugeben wollte. "Das alles so bleibt, wie es ist!", gab der Mann vom MI5 zur Antwort und lächelte sein süßlichstes Lächeln. "Nicht mehr und nicht weniger." "Und was... heißt das für mich?", wollte Margit wissen. "Nur, dass die ihren kleinen Aufruf offiziell als gescheitert ansehen, öffentlich erklären, dass es eine dumme Idee war und von allen ihren Ämter zurücktreten." "Das werde ich ganz sicher nicht tuen!", platzte es Margit heraus. Sie zuckte unter dem kalten Blick des Agenten zusammen.
"Miss Averloue!", meldete sich jetzt die Frau. "Sie wollen doch nicht, dass ich ihnen noch einmal die Argumente darlege, weshalb sie etwas einsichtiger sein sollten." Bei diesen Worten nahm sie eine Pistole aus ihrem Gürtel und legte sie auch die staubige Kommode, auf der sie saß. Für eine paar Herzschläge war es still. Nur das leise Getrappel von Füßen unten in der Eingangshalle war zu hören. Margit betrachtete die Waffe mit weit aufgerissenen Augen. "Nun äh...", begann sie, versuchte ihre Panik zu unterdrücken "unter diesen Umständen denke ich<" sie sollte den Satz nie beenden.
Mit einem Krachen flog die Zimmertür aus ihren Angeln und landete splitternd auf dem Fußboden. Die zwei Männer, die sie im Café gesehen hatte, stürmten hinein. Sie trugen Maschinenpistolen im Anschlag. Der MI5-Agent versuchte schnell seine Pistole zu ziehen, doch einer der Männer rammte ihn mit aller Kraft gegen die Wand, so dass er am Boden zusammensackte. Die Frau wollte ihre Waffe packen. Der andere Mann schoss ihr in die Schulter. Blut spritze, die Frau zuckte und Margit schrie.
"Wa.. was geht hier v...vor sich?", quiekte Margit und sprang vom Stuhl auf um an die Wand zurückzuweichen. "Ma' am", sagte der Mann der den Agenten gegen die Wand geschleudert hatte. Er hatte einen breiten schottischen Akzent. "Ich fürchte sie sind hier nicht mehr sicher. Das MI5 wünscht ihren Tod." "Meinen... gute Güte... Aber er hat doch... ich meine sie haben doch... also... Wer sind sie?" "Wir sind Mitglieder einer geheimen Organisation die sich Claymore Brotherhood nennt. Unser Ziel ist die Befreiung Schottlands, notfalls mit Gewalt - wenn die Diplomatie versagt. Wir sind durch die Pamphlete in der Sun auf ihre Mühen aufmerksam geworden." Margit schien nur ein Wort verstanden zu haben. "Gewalt? Nein! Ich... ich will eine friedliche Lösung... ich<" "Dafür ist es jetzt zu spät, fürchte ich. Mir haben die Information erhalten, dass das MI5 Agenten schicken würde um sie töten. Deshalb sind wir ihnen den ganzen Tag gefolgt. Verzeihung wenn wir ihnen Angst gemacht haben." "Aber...aber", stammelte Margit. Sie konnte nicht begreifen, was sich grade vor ihren Augen abspielte. Sicher war alles nur ein Traum. Wenn sie aufwachte würde sie wieder in ihrem Bett liegen. "Sie müssen sich jetzt beeilen, Miss Averloue", fuhr der Mann fort, während sein Kollege noch immer die Agentin bewachte. "Dieser Fehlschlag wird dem MI5 nicht lange unentdeckt bleiben. Das Beste wird sein, sie kommen mit uns. Packen sie ihre Sachen und sein sie in einer Stunde unten am Hafen!"
Margit nickte stumm und löste sich von der Wand. Der Mann, der gesprochen hatte, folgte ihr nach. "Zu ihrem Schutz", erklärte er, als Margit ihn fragend ansah. Die beiden gingen zu ihrem Haus. Der Mann wartete vor der Tür, die Maschinenpistole in der Hand. Margit packte eilig Hygieneartikel und ein paar Kleider zusammen, schrieb ihrer Nachbarin einen Brief, dass sie spontan verreise und sie sich um die Katzen kümmern solle.
Als die beiden am Hafen eintrafen wartete der andere Mann sie schon. Er hatte einen großen Reisekoffer dabei. "Unsere beiden Freunde vom Geheimdienst, nehmen wir natürlich mit", sagte er mit einem schmierigen Lächeln und trat gegen den Koffer. Margit war unwohl, doch was hatte sie für eine Wahl? Sie folgte den beiden zu einer kleinen Jacht, die ganz am Rand des Hafen vertäut lag. Sei stiegen ein. An Bord wartete ein dritter Mann auf sie, ganz offenbar der Kapitän. Kaum hatten sie die Rampe hinter sich eingeklappt, da startete der Mann den Motor und nahm Kurs weg von der Insel.
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 24. Juli 2012 02:33

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
7. Szene


Und so sah der Plan aus: verfallen!
Patrick und Borsti stiegen über die Reste der verlassenen Häuser. Wo vor zehn Jahren noch die Dörfchen Teetz und Ganz gestanden hatten waren jetzt nur noch zwei Wüstungen im Abstand von etwa einem Kilometer übrig. Patrick war sich nicht mehr so sich sicher, ob er den Plan gut finden sollte. Es war Borstis Idee gewesen.
Die beiden sahen wieder schrecklich aus. Eine Woche war seit der Nacht am Müggelsee vergangen. Seitdem waren sie wieder auf der Flucht, wenn man das so nennen konnte.
Vor zwei Tagen hatten sie die gehört, dass Joshua eingesperrt worden war. Er hatte einen Politiker vor seinem Haus niedergeschlagen und war dabei dummerweise von einem Kameras gefilmt worden. Patrick konnte nicht behaupten überrascht gewesen zu sein. Er kannte Josh schon seit vielen Jahren und wusste, dass er nie der berechnende Typ gewesen war - oder der nachdenkende.
Was ihm mehr Sorgen macht war, dass die Bundesregierung sich offenbar entschieden hatte, dass Deutschland ein so schönes Land sei, dass man es immer betrachten müsse. Warum sonst sollten sie überall Überwachungskameras anbringen? Sicher: Ihre Zahl war in den Letzten 35 Jahren stetig gestiegen, aber das Großprogramm, dass die Regierung grade startete sprengte jeden Rahmen. Selbst auf den den Marktplätzen kleiner Dörfer mussten die Gemeinden auf Befehl des Bundes hin Kameras anbringen. Als er davon beim Gespräch in einer Gaststätte erfahren hatte, hatte es ihn richtig in den Finger gejuckt einen Artikel darüber zu verfassen. Die Arbeitslosigkeit tat ihm nicht gut, dafür war er ein viel zu leidenschaftlicher Journalist. Außerdem hatte er das Gefühl die Leute müssten sich viel mehr empören über dieses Projekt. Zwar schien sich die Regierung nicht viel Mühe zu geben es geheim zu halten, berichtet wurde darüber allerdings auch nicht.
Auch wegen der Sache mit den Kameras fragte sich Patrick wie geeignet das Gelände für ihre Vorhaben war: Zwar war es abgelegen, aber auch von außen gut einsehbar. "Du bist dir mit der Sache sicher?", fragte er Borsti zum wiederholten Male. "Das ist der beste Ort, den wir kriegen konnten", meinte dieser aufmunternd. "Und außerdem einzige! Wenn man ein Stückchen Land erbt kann man sich aussuchen, wo das liegen soll und hier wren die Grundstückspreise zu niedrig, dass wir noch was dazukaufen konnten." "Ich habe auch mehr von der Idee an sich geredet", entgegnete Patrick vorsichtig doch Borsti klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und sagte: "Heute gehen wir als Gründerväter in die Geschichte ein, mein Freund. Und dann knöpfen wir uns Fisher und die Regierung vor."
Patrick hoffte, das er Recht behalten würde, während sie die halb verfallenen Gebäude des ehemaligen Dörfchens Ganz nach etwas Nützlichen durchsuchten. Es war Borstis Plan gewesen hier Mitten in der Walachei im brandenburgischen Grenzgebiet eine Mikronation auszurufen und als Hauptquartier zu nutzen. Natürlich wollten sie ihre "Staatsgründung" nicht an die große Glocke hängen, aber der harte Kern, der sich mittlerweile gebildet sollte dem Event schon bei wohnen. Anfangs war Patrick von der Idee begeistert gewesen, doch mittlerweile kamen ihm Zweifel. Die Inszenierung, die Borsti geplant hatte, klang Patrick zu sehr nach Volksfest und nach wenig nötigem Ernst. Als er Borsti darauf ansprach, sagte der: "Ach verdammte Scheiße, Patrick! Eine Revolution braucht zwischendurch ein wenig Spaß. Lenin hatte sicher keinen Spaß bei seiner Revolution und du siehst ja, was aus ihm geworden ist."
Sie trugen Bänke, Tische und Stühle zusammen, die sie in einer langen Reihe aufstellten. Nach etwa einer halben Stunde kam der erste Gast: Matthias. Mit den Worten: "Mein Gott ihr habt euch ja wirklich den Arsch der Welt ausgesucht, nicht mal Google kennt dieses Kaff!", begrüßte er die beiden. Patrick, der seit einem halben Jahr nicht mehr richtig mit Matthias gesprochen hatte, freute sich sehr, dass sein alter Freund aus Schulzeiten schon so früh da war.
"Die haben mich zu den Kindergärtnern versetzt. 1.100 Deutsche Euro Brutto im Monat und das bei der Inflation", erklärte er ihnen "Aber ich will mich nicht beschweren. Erst wollten sie mich zum Altenpfleger machen - warum auch immer ausgerechnet ich - aber staatliche Pflegeheime gibt es ja kaum noch und die privaten wollten mich - zum Glück! Aber immer noch besser, als dass, was Sean passiert ist." "Und was?", wollte Patrick wissen, während er einen Stuhl abstaubte. "Im Grunde ist es ziemlich fies... der arme Junge wurde für die städtische Kanalreinigung zwangsrekrutiert." Borsti lachte lauthals los, fing sich aber nach einem Moment wieder und schaffte es sogar ernst zu wirken, als er sagte: "Du hast recht, das ist echt nichts lustig!" "Nein, ist es auch nicht!", fuhr Matthias offenbar verärgert fort. "Vorallem reicht, das was er verdient kaum zum Leben. Was ich so mitbekommen hat hat sein Chef beim Arbeitsamt seine Versetzung gefordert, weil er angeblich nicht hart genug arbeite. Wie auch immer. Alles besser als arbeitslos zu sein. Hast du gehört: Sie wollen die Sozialhilfen nochmal kürzen."
Patrick hatte es gehört und es bereitete ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er wollte es nicht zugeben, nicht einmal gegenüber sich selbst, aber er war ziemlich unzufrieden mit ihrer Widerstandsbewegung. Was hatten sie denn bisher erreicht? Auch machte er sich selbst Vorwürfe die Sache nicht konsequenter verfolgt zu haben. Oft lag er nachts lange wach und grübelte, was als nächstes zu tun sei. Bisher hatten sich ihre Tätigkeiten auf plakatieren, demonstrieren und ein paar kleine Aktionen wie Schmierereien und Straßenblockaden beschränkt. Bei keiner dieser Sachen war Patrick selbst dabei gewesen. Er fürchtete aber, dass sie mit Fisher einen Mann vor sich hatten, der sich von solchen Kindereien wie Demonstration und zivilem Ungehorsam nicht beeindrucken lassen würde. Andererseits wollte Patrick die Sache aber auch nicht in offene Gewalt um schlagen lassen. Die Lage war verzwickt.
Matthias riss ihn schließlich aus seinen Gedanken, indem er Borsti fragte: "Neue Haarfarbe, oder? Hat die irgendnen tieferen Sinn?" Borsti strich sich über seinen Irokesen, den er weiß-grün-lila gefärbt und antwortete: "Jop! Das sind unsere neuen Landesfarben." Tatsächlich hatte sich Borsti bei einem Bekannten, der ein Flaggengeschäft in der Nähe des Alexanderplatzes hatte, eine weiß-grün-lilane Flagge anfertigen lassen. Die Idee, die Komplementärfarben zur deutschen Flagge zu nehmen, stammte übrigens von Patrick.
In diesem Moment kam ein weiteres Auto die Feldstraße hochgefahren. Während die Neuankömmlinge halfen einen provisorischen Grill auszubauen fühlte sich Patrick in seinen Volksfestbefürchtungen bestätigt. Doch nachdem er ein paar Flaschen von dem Bier getrunken hatte, das sie mitgebracht hatten fand er das nicht mehr ganz so tragisch.
Immer mehr Leute kamen, die beim Aufbau und dem Ausräumen der Häuser halfen. Sean war da und Conor und viele Mitglieder der ersten Stunde.
Irgendwann zogen sich Patrick und Borsti in eines der besser erhaltenen Häuser zurück. Borsti hängte sich ein altes Jagdgewehr um, dass er von seinem Großvater geerbt hatte, und nahm sich die Notizen für seine Rede. Bevor die beiden das Haus wieder verließen drückte er sich und Patrick je einen Zweispitz auf den Kopf. "Wegen des Gründerväterlooks", erklärte er stolz. Patrick wusste zwar nicht die Gründerväter welchen Landes sich durch das Tragen von Zweispitzen ausgezeichnet hatten, aber er hielt es für einfacher Borsti im Moment nicht darauf hinzuweisen. Außerdem wollte er ihm den Augenblick nicht vermiesen; seit einer Woche freute er sich wie ein Schneekönig auf diesen Tag - vielleicht war es ja ein lange gehegter Kindheitstraum gewesen.
Draußen hatten sich inzwischen etwa vierzig Mann versammelt und warteten darauf, was jetzt passierte. Sie betraten ein wackliges Podest, dass sie aus Vorratskisten und Dielenbretten zusammengezimmert hatten und Borsti begann seine Rede: "Das deutsche Volk hat auf ganzer Linie versagt. Das ganze deutsche Volk? Nein eine mutige Gruppe ungewaschener Wiederständler leistet erbitterten Wiederstand. Und ihre Mühen wurden belohnt: Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Raubtierkapitalismus erledigt. Fisher und Stähle haben abgedankt. Es lebe die echte deutsche Republik! Der Abgeordnete Dahlheim ist zum Erzkanzler ausgerufen worden. Ich bin damit beauftragt worden eine neue Regierung zusammenzustellen. Dieser Regierung werden wir alle angehören. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, diesen glänzenden Sieg, diesen vollen Sieg nicht beschmutzen zu lassen, und deshalb bitte ich sie, sorgen sie dafür, dass in der falschen Republik Deutschland eine Reihe von Störungen auftreten. Ruhe und Ordnung ist das, was wir jetzt nicht brauchen können. Sorgen wir dafür, dass die Regierung der falschen Republik wankt und einstürzt! Es lebe die Echte Republik Deutschland!"
Gejohle und Applaus brandeten auf, als Borsti zu Ende gesprochen hatte. "Wie gut das Scheidemann schon seit mehr als 70 Jahren tot ist", flüsterte Patrick Borsti durch das Geklatsche hindurch zu. "Ja ich hatte ja erst mit Liebknechts Rede geliebäugelt, aber da hätte ich so wenig verändern brauch, dass mir sicher die kreative Eigenleistung aberkannt wäre. Obwohl der gute Karl sicherlich stolz auf uns gewesen wäre."
Dann erklärte Borsti der FRD - der Falschen Republik Deutschland - symbolisch den Krieg indem er mit dem Gewehr in die Luft schoss. Danach teilte er die Anwesenden in 5 "Freikorps" auf und schickte sie an verschiedene Stellen um Straßensperren und Zollstation zu errichten. Währenddessen legten er und Patrick Grillfleisch auf. Als alle wieder da waren rief er die Gründung der "Republikwehr" und des "Obersten Rates" aus - wobei alle Anwesenden sowohl dem einen als auch dem anderen zugeteilt wurden. Ein bisschen Brimborium folgte und dann wurde gesoffen auf ihren glorreichen Sieg und die geglückte Staatsgründung irgendwo in der Walachei.
Worum es dabei ging war freilich die Schaffung eines Hauptquartiers. Patrick hoffte inständig, dass sie hiermit mehr Effizient erreichen würden. Es gab nicht sowas wie eine feste Mitgliedschaft in ihrer Widerstandsgruppe, aber dennoch konnte man so um die 120 Leute dazu zählen, über ganz Deutschland verstreut, doch die meisten im Großraum Berlin. Die etwa 40 Anwesen waren sowas wie der harte Kern. Patrick hätte auch gerne Kudda Kalle eingeladen, doch der Däne winkte ab, wollte aber auf seinem Piratensender von ihrem Staat berichten - ohne natürlich wichtige Details wie zum Beispiel den Ort des Staates zu nennen. Er hatte auch kurz an Phillip gedacht, den Gedanken aber wieder verworfen, da er ihn für zu wankelmütig hielt.
Irgendwann, kurz nach Mitternacht, kam Borsti zu Patrick herübergewankt und ließ sich neben ihm ins Gras fallen. Er wirkte so gelöst wie seit Wochen nicht mehr. "Die müssen uns einfach völkerrechtlich, anerkennen", lallte er "So nen... So ein wilden Haufen, der muss eine eigene Etine... ach Quatsch Ethnie sein. " Patrick antwortete darauf nichts musste jedoch grinsen, während er einen weiteren Schluck Bier trank.

Etwa einen halben Kilometer von den beiden entfernt hockten zwei Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes hinter einem Busch und diktieren ihren Geräten im Flüsterton Notizen. Der größere von den Zweien seufzte zufrieden und schlug seinem Kollegen auf die Brust. "Das reicht dann wohl", sagte er mit einem seligen Lächeln. "Ich vermute, das ganze kann man als Landesverrat bezeichnen und sie dafür einbuchten." Der zweite lächelte ebenfalls und murmelte in überlegenem Tonfall: ""Spiel, Satz und Sieg." Dann gingen die beiden zu ihrem Auto zurück und fuhren nach Berlin.

Gebiet der Echten Republik Deutschland (Öffnen)
Bild


Flagge der Echten Republik Deutschland (Öffnen)
Bild
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 26. Juli 2012 01:05

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
8. Szene


Borsti überraschte Patrick dadurch, dass er am nächsten Morgen einigermaßen fit wirkte. Jetzt erst merkte Patrick, wie ernst Borsti die Sache mit der Staatengründung wirklich nahm. Zwar reiste die Hälfte der neuen "Bürger" der Echten Republik Deutschland wieder ab, aber die Hälfte die blieb stürzte sich dafür mit Feuereifer auf ihre Aufgaben. Als erstes räumten sie die halbverfallenen Gebäude der ehemaligen Dörfchen Ganz und Teetz leer. Nachdem die Orte vor 4 Jahren in Folge der vorgesetzten Landflucht aufgegeben worden waren, hatte hier niemand mehr gewohnt. Die umliegenden Felder waren zwar noch bis vor kurzem bewirtschaftet worden, aber die Natur hatte das Areal dennoch schnell zurückerobert.
Sie trugen alles auf der Straße zwischen Teetz und Ganz zusammen. Was noch brauchbar war brachten auf den Zentralplatz in Ganz. Der Rest wurde in den Straßenbarrikaden verarbeitet oder im südlichen Waldstück abgeladen. Es gab acht Straßen, die in die ERD - die Echte Republik Deutschland führten. Zwei davon waren allerdings nichts weiter als alte Forstwege und so überwuchert, dass man sie eh nicht mehr nutzen konnte. Drei der anderen stellten sie mit alten Möbeln, dicken Ästen, Steinen und Zaunresten derart zu, dass kein Durchkommen mehr war. Nachdem sie so die Straßensperren verstärkt hatten, die sie am Vorabend errichtet hatten, machten sie erst einmal Pause. Patrick und Borsti saßen etwas abseits.
"Wow, wie in einem echten kleinen Staat, ich bin beeindruckt", lobte Patrick. "Ja, war schon gut, dass wir den 30. April als Tag für unsere Staatsgründung genommen haben, so haben heute alle frei.", antwortete Borsti zufrieden. Matthias gesellte sich zu ihnen und sie redeten über belanglose Dinge. Eine halbe Stunde später fuhren sie mit vier Wagen in vier verschiedene Baumärkte, um allzu viel Aufsehen zu vermeiden, während sie Baumaterial kauften. "Du haust ja echt dein ganzes Erbe hierfür auf den Kopf!", sagte Patrick zu Borsti als er mit ihm einen Obi verließ. "Ich denke sogar, er hätte es so gewollt.", entgegnete der. "Als er das Land damals gekauft hat, hat er geglaubt, die Leute würden irgendwann wieder von den Städten aufs Land ziehen und dann wäre seine Immobilie ein Vermögen wert - dieser Trottel. Immerhin konnte er das Umland an einen Bauern aus Teetz vermieten... Und durch uns steigt der Wert dieses Stück Landes tatsächlich wieder." Das konnte man nicht abstreiten.
Um drei Uhr Nachmittags trafen sich alle wieder in Ganz. Als Zufahrtsstraßen nutzen sie die drei Straßen, die nur provisorisch mit je einem Zauntor gesperrt hatten. Hier sollten mal drei Zollstationen entstehen. Sie hatten Bretter, Nägel, Schrauben, Tapeten, Farbe und noch eine ganze Menge anderen Kram gekauft und machten sich jetzt daran, die Häuser wieder herzurichten. Das größte Problem waren die Fenster. Kaum eines war heil geblieben, doch hätte es ihr Budget um ein Vielfaches überstiegen Fenster für alle Häuser zu kaufen. Außerdem wollten sie ja keine Wohlfühloasen, sondern nur Unterkünfte für ein oder zwei Nächte errichten. Also nahmen sie kurzerhand die zerbrochnen Fenster ganz heraus und nagelten von innen Jutetuchbahnen davor.
Am Abend waren sie zwar noch lange nicht fertig, aber weiter als Patrick geglaubt hätte. Sie hatten die acht besterhaltensten Häuser zur Renovierung ausgesucht. Sie lagen zwar über den ganzen Ort verteilt, aber bei einem Dorf von Ganz Größe, das auch in besten Zeiten wahrscheinlich nicht mehr als 20 Gebäude gezählt hatte, hieß das nicht viel. Bei 6 der Häuser hatten sie angefangen, sie soweit wieder herzurichten, dass man sie als Wohnhäuser nutzen konnte. Zumindest sollte man nicht mehr befürchten, dass das Gebäude in sich zusammenstürzen würde. Eines der beiden übrigen Häuser sollte eine Küche, das andere eine Art Bad werden. Wenn auch natürlich sehr spartanisch. Neben der Straße, die aus dem Dorf heraus nach Teetz führte, hatten sie mit Pfählen ein etwa 10 mal 25 Meter großes Rechteck abgesteckt. Hier sollte später das "Parlament" entstehen: Eine Mischung aus Arbeitszimmer, Verhandlungsraum und Bar.
Sie aßen alle gemeinsam zu Abend, wobei sie den Grill vom Vortag reaktivierten, indem sie ihn mit Sperrmüll befeuerten. Danach verabschiedeten sich alle und fuhren weg - fast alle. Patrick bliebt mit Borsti, Sean und Matthias zurück. Sie setzen sich in eines der Häuser.
"Autarkie wäre natürlich cool", ließ Borsti irgendwann fallen. "Dass wir uns selbst versorgen, wisst ihr? Außerdem würde das die Leute aus dem ganzen Wirtschaftskreislauf rausholen." "Ich glaube kaum, dass die Leute hier längere Zeit werden wohnen wollen", entgegnete Patrick und ließ den Blick über die heruntergekommene Einrichtung wandern. "Außerdem ist unser Ziel ja eigentlich diesen Arsch von Fisher und seine ganze Bagage loszuwerden und nicht hier in Ruhe unseren Lebensabend zu verbringen, wie du dich vielleicht erinnerst." "Ach ja!", seufzte Borsti sarkastisch und zog an seiner Zigarette. "Wie konnte ich das bloß vergessen?" Als Patrick schwieg fuhr er fort. "Wir bauen jetzt erstmal morgen und übermorgen alles fertig und dann am Wochenende, wenn wieder mehr Leute hier sind, überlegen wir uns unsere nächsten Schritte" "Wenn uns bis dahin etwas einfällt", warf Matthias ein.
"Wenn ich ehrlich bin; ich habe keine Ahnung was wir als nächstes tun könnten", sagte Patrick. "Ich auch nicht", gab Borsti zu.
Von irgendwoher drang ein Krachen an ihre Ohren. "Was war das?", fragte Sean. Patrick war zu sehr in Gedanken um zu antworten. "Vielleicht führt kein Weg an offener Gewalt vorbei", meinte er und trank einen Schluck Bier. "Das Problem wird nur sein, dass sie darauf ebenfalls mit Gewalt antworten werden", gab Matthias zu bedenken. "Ich weiß! Halt nur langsam weiß ich nicht mehr weiter", klagte Patrick. "Wir sollten einen Generalstreik anzetteln", schlug Matthias vor. "Ja... irgendsowas in der Art", anwtortete Patrick langsam. "Trotzdem: Ich gehe morgen Benzin für Mollis kaufen - wenn ich welches bekommen und höre mich mal um, wo man Waffen herkriegt." "Geh lieber einen Laptop und einen Drucker kaufen!", mahnte Matthias schroff. "Dann könnten du und Borsti wieder eurer Arbeit nachgehen, das täte euch sicher gut. Außerdem nicht es ja nicht so, als würden Plakataktionen und gezielte Aufklärung nichts bewirken." "Ach nein?" "Wenn man wie du die ganze Zeit durch das Land streift ist es ja klar, dass man nichts mitbekommt. Würdest du aber noch nem regelten Tagesablauf nachgehen, dann wüsstest du, dass längst nicht alles so reibungsfrei läuft wie die Bundesregierung sich das wünscht. Ich sag es dir: Noch ein, zwei Monate und<"
Er wurde von quietschenden Reifen und schlagenden Türen unterbrochen. Männerstimmen riefen hektisch durcheinander. "Oh shidden", flüsterte Patrick. Dann schrie er: "Raus hier! Raus schnell!" Sie sprangen auf und rannten zur Haustür. Auf der Straße stand ein großer Wagen mit aufmontieren Nebelscheinwerfern, in deren Leuchtkegel sie direkt hinein liefen. "Stehenbleiben! Polizei!", rief einer der Männer. Sean, mit der Situation vollkommen überfordert, blieb wie angewurzelt stehen und hob die Hände. Die anderen nutzen den Moment und stoben davon; Matthias noch links und Patrick und Borsti nach rechts.
Einer der Polizisten rief etwas, doch sie verstanden nicht was. Dann hörten sie wie einer von ihnen die Verfolgung aufnahm. Sie konnten nur ahnen, dass die Polizisten sich aufteilten um auch Matthias zu erwischen. Ihr Verfolger gab einen Warnschuss ab, doch sie beschleunigten ihre Schritte nur noch einmal. Zum Glück trugen sie dunkle Klamotten und waren deshalb in der Nacht, die sich über die Gegend gelegt hatte, nur schwer zu erkennen. Ein zweites Mal schoss der Polizeimann und diesmal war es ein kein Warnschuss. Die Kugel raste nur eine Hand breit an Borstis Schulter vorbei. Vor ihnen zeichneten sich die Umrisse eines Waldstückes ab. Wenn sie es bis dorthin schaffen würden, hätte der Polizist Schwierigkeiten sie weiter zu verfolgen oder auf sie zu schießen. Sie hatten die Bäume fast erreicht, da knallte erneut die Pistole und diesmal traf das Projektil. Der Schmerz explodierte in Patricks Bein, als sich die Kugel in seine Kniekehle bohrte. Er stürzte. Borsti blieb stehen. Er sah zwischen dem näherkommenden Polizisten, dem rettenden Wald und seinem verletzten Freund hin und her. "Lauf du Trottel", brüllte Patrick. Borsti warf ihm einen letzten widerwilligen Blick zu, dann drehte er sich um und spurtete weiter. Patrick sah ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwunden war. Dann blieb ihm nichts mehr außer zu warten und zu versuchen sein Bein möglichst nicht zu bewegen. Der Polzist ließ sich jetzt Zeit. Er schien begriffen zu haben, dass er Borsti nicht mehr einholen konnte und er wusste, dass Patrick ihm schon nicht weglaufen würde. Als er ihn schließlich erreicht hatte keuchte er schwer. "Aufstehen", sagte er schlicht. "Wie denn? Sie Arschloch haben wir ins Bein geschossen", gab Patrick zurück. Erst jetzt, wo er seine eigene Stimme hörte, wurde ihm bewusst, dass auch er am keuschen war. Anstatt zu antworten, zog der Mann ihn auf die Beine, legte ihm Handschellen an und stützte ihn auf dem Weg zurück zum Auto. Dort setzte man ihn in den Polizeiwagen. Seine Wunde verband man nicht, aber mittlerweile hatte die Blutung einigermaßen aufgehört.
Nach einiger Zeit - Patrick konnte nicht sagen wie lange es genau gedauert hatte - brachten sie auch Matthias und Sean in das Auto. Ihnen gegenüber setzte sich der Mann, der Patrick ins Bein geschossen hatte. Die drei trugen Handschellen und konnten sich nicht anschnallen, was es ihnen nicht gerade erleichterte sich auf ihren Plätzen zu halten während der Polizeiwagen über den holprigen Weg fuhr. Anscheinend hatten sie eine der Straßensperren, die südlichste, einfach mit dem schweren Auto durchbrochen.
"Wo warst du in der Zwischenzeit", flüsterte Patrick an Sean gewandt, der neben ihm saß und eigentlich schon als erster verhaftet worden war. Doch der schüttelte nur den Kopf und der Polizist, der sie bewachte, schnauzte: "Klappe! Keine Gespräche!" Also hielt Patrick den Mund und dachte an Borsti. Er hoffte nur, dass er schonweit weg war und, dass er da, wo immer er hinkommen würde eine Menge Chaos stiftete.
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 31. Juli 2012 13:38

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
9. Szene


Fisher saß in dem selben schwarzen Ledersessel wie immer, doch der Ort, an dem er stand hatte sich verändert. Fisher war mit seinem Büro jetzt offiziell in das Bundeskanzleramt umgezogen. Gerade ließ er sich die Berichte für den Monat April vorlesen. Er hatte in nur etwas mehr als einem Monat viel erreicht: Die Produktion im gesamten Bundesgebiet war gestiegen und die Arbeitslosigkeit gesunken. Simon Fisher konnte nicht verstehen, warum vor ihm noch niemand auf die Idee gekommen war Arbeitslose als billige Arbeitskräfte einzusetzen. Ihre mangelnde Qualität machten sie durch den niedrigen Lohn, mit dem man sie abspeisen konnte, wett. Doch Fisher hatte das Gefühl, dass man noch mehr aus ihnen rausholen konnte.
Er saß am Kopf einer langen Tafel umringt von seiner Arbeitsgruppe: Politiker und wichtige Firmenchefs, die ihm beim sichten seiner Berichte halfen. Bei sich nannte Fisher sie seine Jünger, denn er wollte ihnen den Weg zur wirtschaftlichen Erleuchtung zeigen. An der Wand hinter ihm hing ein großes Portrait seiner Selbst. "Meine Damen und Herren! Ich bin sehr zufrieden mit ihnen. Sie allen haben ihre Aufgaben gut erledigt." Die Angesprochen schienen sich sichtlich über das Lob zu freuen, vor allem Finanzminister Bermel, der sagte: "Danke sehr, Sir!" Fisher lächelte gönnerhaft. "Aber", fuhr er fort. "Es gibt noch viel zu tun. Wenn ich mir den Posten der Sozialabgaben ansehe, dann fällt mir auf, wie riesig er immer noch ist. Steffens, wie kann das sein?" Der Minister für Arbeit und Soziales, der auf diesen Namen hörte versuchte sich hektisch zu rechtfertigen: "Nun äh... Herr Fisher. Die Leute... also viele von ihnen sind schwer davon zu überzeugen die Arbeit, die man ihnen zuteilt auch anzunehmen. Außerdem sind wir voll beschäftigt." "Sind wir das?", fragte Fisher und zog eine Augenbraue hoch. "100 prozentig. Es gibt keine freien Stellen mehr in Deutschland." "Ah ha!", machte Fisher "keine freien Stellen mehr in Deutschland... aber haben wir ihnen nicht beigebracht global zu denken?" Er sah den Minister durchdringend und sagte schließlich: "Ich mache ihnen keinen Vorwurf Steffens." Der Politiker schien erleichtert. "Für solche Gedankengänge bin ja schließlich ich da, nicht wahr?" Zustimmendes Gemurmel. Fisher stand auf und auch die anderen Anwesenden erhoben sich. Während er den Raum durchmaß sprach er weiter.
"Wie ich ihnen gegenüber schon zweimal erwähnte arbeiten unsere Kollegen und ich an einem europaweitem Netzwerk, dass uns dabei helfen wird Arbeiter in ganz Europa immer genau dorthin zu schicken, wo wir sie haben wollen. Vor der norwegischen Küste gibt es nicht genug Arbeiter auf den Bohrfirmen, dafür zu viele Arbeitslose in Italien? Kein Problem! Wir werden dafür sorgen, dass in Norwegen Wohnungen geräumt und die Menschen aus Italien dorthin umgesiedelt werden." Es gab allgemein bewunderndes Geraune. "Leider ist dieses Modell noch nicht vollständig einsatzbereit. Das Hauptproblem ist, dass sich manche Regierungen, wie die Griechenlands zum Beispiel, die es wirklich bitter nötig hätten, meinen Kollegen verschließen. Wenn es sich jedoch in Europa bewährt, werden wir dieses System bald auf die ganze Welt ausdehnen können." Die Anwesenden wirkten beeindruckt, doch Fisher war noch nicht fertig.
"Allerdings ist das nicht alles!", verkündete er. "Es liegt auch daran, dass unser Sozialsystem immer noch, trotz der Fortschritte, die die PFM schon erzielt hat, vollkommen widernatürlich ist. Ich frage sie, Ladies und Gentlemen, was ist Leben?" Er schritt die Reihen ab. "Alles!", sagte der Chef eines Baumaterialherstellers. Fisher lächelte: "Sehr philosophisch, bringt uns aber nicht weiter." Er blieb vor dem Minister für Arbeit und Soziales stehen. "Was meinen sie Steffens", fragte mit schnarrender Stimme. "Ein Geschenk", antwortete er unsicher.
Finanzminister Bermel gab ein verächtliches Lachen von sich: "Ein Geschenk? Von wem denn bitteschön? Sie wollen mir doch nicht sagen, dass sie in ihrem Alter noch immer an Gott glauben." Fisher wandte sich grinsend an ihn. "Und was würden sie antworten, auf die Frage Was ist Leben?" "Kampf!", gab Bermel bestimmt zurück. Fisher war höchst zufrieden. "Und das ist genau die Antwort, die ich hören wollte. Kampf!", bekräftigte er. "Ein täglicher Kampf ums nackte Überleben. Der Fuchs muss jagen, der Hase muss rennen. Jede Spezies muss auf ihre Weise etwas tuen, um ihren Platz in der Welt zu rechtfertigen. Der Mensch hat es da gut. Er muss nicht jagen, nicht fliehen, aber er muss arbeiten. Und so sollte es auch sein! Wer überleben will muss arbeiten! Gesellschaften können erst funktionieren, wenn sie natürlich sind. Und natürlich ist, dass der, der nichts tut, verreckt. Deshalb werde ich nächste Woche die Order raus geben das Arbeitslosengeld bis Ende des Jahres 2029, schrittweise auf 95 Deutsche Euro im Monat zu senken und sie sollen froh sein, denn das reicht immer noch um nicht zu verhungern!"
Die Reaktion auf diese Worte fiel geteilt aus. Einige applaudierten, darunter Bermel, andere wirkten überrascht und einige schockiert. Vor allem Steffens stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Fisher sah ihm tief in die Augen. "Erschreckt?", fragte er gefährlich leise. "Das Leben ist nun mal hart. Ein Kampf! Das werden auch sie noch verstehen." Dann hob er die Stimme. "Das werden alle noch verstehen! Sie werden es verstehen müssen. Das bringt mich zum nächsten Punkt: Dieses Denken muss in der Gesellschaft verankert werden. Was nützt es den Kindern, wenn man ihnen etwas über das Mittelalter beibringt oder über die Industrielle Revolution, wenn man ihnen nicht dadurch die Botschaft vermittelt, dass man ihm leben Kämpfen muss." Fisher sah zur Decke während er weiter sprach schneller, gehetzter. "Weg mit Locke und Rousseau, sage ich! Her mit Hobbes! Die Menschem müssen begreifen homo homini lupus und dass der bellum omnium contra omnes noch immer tobt. Erst durch Konkurrenzdenken werden Menschen zu Hochleistungen animiert!"
Er sah in die Runde und ihn seinen Augen glühte ein Feuer. "Es ist schade, dass die Bildungsministerin nicht an unserer netten kleinen Runde teilnimmt. Ich werde sie wohl in den nächsten Tagen auf meine Ideen für die künftigen Lehrpläne ansprechen müssen." Er sprach wieder ruhig und setzte sich auf seinen Platz. "Nun Ladies and Gentlemen. Das war unser Ideengespräch für heute. Sie wissen jetzt worauf es ankommt. Am Ausgang werden sie ihre Instruktionen für den laufenden Monat erhalten. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Tag." Die Arbeitsgruppe wandte sich zum gehen, doch Fisher rief noch einmal "Halt Bermel! Sie bleiben!"
Er wartete bis alle den Raum verlassen hatten, dann drehte er seinen Ledersessel seitlich und bedeutete Bermel sich ihm gegenüber zusetzen, sodass kein Tisch zwischen ihnen war. "Bermel", sagte er feierlich. "sie scheinen mir der richtige Mann für eine besondere Aufgabe zu sein." "Ich, Herr Fisher?", fragte der Finanzminister mit gespielter Bescheidenheit. "Ja, sie scheinen mir einer der wenigen zu sein, die mich wirklich verstehen, die wirklich bereit sind neue Wege mit mir zu gehen." "Das bin ich", bestätigte Bermel. "Gut, gut. Ich vermute sie wissen noch, wie ich einmal sagte, dass wir in die Geschichte eingehen werden. Doch das ist nur das kleine Ziel von mir und meinen Kollegen. Das große Ziel ist vielmehr das Ende der Geschichte." "Das Ende der Geschichte?", wiederholte Bermel. "Ich verstehe nicht ganz."
Fisher stand wieder auf und begang im Raum hin und her zu schreiten. Bermel blieb an seinem Stuhl stehen und folgte ihm mit den Augen. "Sehen sie Bermel... Geschichte, das heißt Kriege, Umwälzungen oder mit anderen Worten: Eine Unterbrechung des nützlichen Laufs der Dinge. Es reicht nicht, dass unsere Organisation international ist, sie muss auch absolut sein. Jeder der gegen das Paradies arbeitet, das wir schaffen wollen in dem es keinen Krieg keinen Revolution sondern nur noch den Menschen und seine Arbeit gibt, muss aufgehalten werden. Und da kommen sie ins Spiel Bermel. Der BND alleine wird dazu nicht reichen. Sehen sie doch, was die mir gebracht haben. Als großen Erfolg der Woche die Verhaftung eines Kleinkriminellen Trommelrührers namens Patrick Dahlheim. Der eigentliche Trick ist es doch Verbrechen zu verhindern bevor sie begangen werden. Ich möchte, dass sie sich dieser Aufgabe annehmen." "Ich?"
"Ja", sagte Fisher und das Leuchten in seinen Augen kehrte zurück. "Bauen sie ein Ministerium für Sicherheit auf. Es nützt nichts, dieses Land allein per Kamera zu überwachen. Sorgen sie dafür, dass absolute Sicherheit gewährt ist! Schicken sie verdeckte Agenten in jedes Dorf! Verhindern sie, dass Verbrechen auch nur gedacht werden."
Bermel war wie immer Feuer und Flamme für Fishers Idee. "Sie haben freie Hand und so viele Mittel wie sie brauchen", fügte der Sonderbeauftragte hinzu. "Sie können sich auf mich verlassen", ereiferte sich Bermel. Fisher lächelte und sagte: "Dann sputen sie sich. Jede Sekunde kostet." Bermel marschierte zur Tür, doch als er sie erreicht hatte hielt Fisher ihn noch einmal auf: "Und ach ja: Besorgen sie mir einen neuen Minister für Arbeit und Soziales." "Wird gemacht."

Als Simon Fisher wieder alleine war, lehnte er sich zufrieden in seinem Sessel zurück. Es sah gut aus. Es war eben doch das Beste, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, anstatt immer nur Druck auf eine Regie auszuüben. Er sah zur Decke. Bundeskanzler Stähle hatte sich als widerspenstiger als gedacht erwiesen. Doch was machte das schon? Schließlich macht ein wenig Widerstand die Sache ja erst lustig. Und schließlich hatte er ja im Vorfeld dafür gesorgt, dass die Macht seines Amtes systematisch untergraben wurde. Nein Stähle würde ihm keine Schwierigkeiten bereiten. Noch ein halbes Jahr vielleicht, dann wäre er, Simon Ignatius Fisher, der uneingeschränkte Chef der Firma Deutschland. Und wie eine Firma wollte sie dann auch führen. Die anderen "Sonderbeauftragten" konnten sich ruhig ein Beispiel an ihm nehmen, fand er. In keinem anderen Land Europas, außer Russland, wenn man das zu Europa zählen wollte, war die Unterwanderung des Staates bereits so weit voran geschritten. Allerdings musste er auch eingestehen, dass er ein wenig Glück gehabt hatte. Hätte er nicht mit Bermel einen ebenso unterwürfigen wie einflussreichen Lakaien gefunden, wäre er vermutlich noch nicht so weit gekommen.
Er dachte an die Pläne, die er noch verwirklichen musste, ehe sein Sieg vollkommen wäre und musste lachen. "Das wird das Ende der Geschichte", flüsterte er und es klang wie eine Drohung.
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 8. August 2012 00:46

2. Akt Bellum omnium contra omnes
10. Szene


Ein schwerer Pflasterstein flog und zertrümmerte das Fenster der Polizeiwache von Usman. Die Polizisten stürmten heraus, um sich ihren Kollegen auf der Straße anzuschließen. Diese hatten mit ihren Plexiglasschilden eine Art antike Schildkrötenformation gebildet. Doch statt mit Schwertern, waren sie mit Knüppeln und Pistolen bewaffnet. Die Polizisten aus der Ortswache, die keine solchen Schilde hatten, nahmen am Straßenrand Aufstellung. Der Staatsmacht gegenüber standen die Aufständler, bewaffnet mit Äxten, Brechstangen, Steinen oder was immer sie gefunden hatten um es als Waffe zu verwenden. Mitten unter ihnen stand Natascha und grub einen weiteren Stein aus dem Straßenpflaster.
Was vor einer Stunde als Demonstration im kleinen Städtchen Usman, nördlich von Woronesch, begonnen hatte wurde nun zu einer Straßenschlacht. Die Demonstration, die das gesamte Stadtzentrum friedlich besetzt hatte, war nicht angemeldet gewesen - sie hätten ja eh keine Erlaubnis bekommen zu demonstrieren. Also waren zwei Hundertschaften aus dem nahegelegenen Woronesch angerückt, um die Demonstranten auseinander zu treiben. Die Stimmung war zum zerreißen gespannt gewesen, als die Polizisten angefangen hatte die Menschenmenge mit ihren Knüppeln auseinander zu treiben. Doch die Gewalt war nicht eskaliert - es gab ein paar Festnahmen und die Menge zerstreute sich. Allerdings waren von den rund 2000 Menschen nur etwa die Hälfte nach Hause gegangen.
Auch Natascha war unter den Demonstranten gewesen und mit ihr Yuri, Gregor der immernoch die Augenklappe trug und Aleksander. Sie hatten gewusst, dass es gefährlich sein würde sich ihnen anzuschließen, zumal Natascha immer noch nicht wusste, was für Beweggründe ihr Vater gehabt hatte sie aus dem Gefängis zu holen, doch sie waren bereit gewesen das Risiko einzugehen.
Als die Demonstration zerschlagen worden war, hatte Natascha ihre Chance gewittert. Die Stimmung war aggressiv und überreizt gewesen und so hatte sie nur wenige Wort gebraucht um die Leute zu überzeugen sich zu bewaffnen und gewaltsam gegen die Polizisten vorzugehen - die meisten schienen es sowieso vorgehabt zu haben.
Als die Einsatzpolizei, die sich schon auf dem Rückweg befunden hatte, die bewaffneten Aufständler gesehen hatten, zogen sie sich instinktiv zurück und versammelten sich vor der örtlichen Polizeiwache.
Hier standen sie nun den Aufrührern gegenüber. Und wieder drohte die Stimmung zu kippen, als plötzlich der erste Schuss fiel. Ein lauter Knall, der den Startschuss zu einem tödlichen Wettkampf auf Leben und Tod gab. Die Rebellen stürmten vorwärts. Während die Einsatzpolizisten sich hinter ihren Schilden verschanzten gerieten die Ortspolizisten zwischen die Fronten. In Panik gaben sie Schüsse in die Menge ab und töten zwei Menschen, ehe der Mob sie erreichte. Dann begann das Gemetzel. Natascha drängte sich nach vorne, mit Aleksander an ihrer Seite. Sie sah vor ihr, wie ein Rebell einem Polizisten mit einer Brechstange den Schädel zertrümmerte. Blut spritzte auf. Ein Pistolenschuss tötete den Mann mit der Brechstange und ein Blutfontäne schoss aus dem Einschussloch hervor. Die Aufständischen waren in der Überzahl, doch nur provisorisch bewaffnet. Dennoch hatten sie die Polizisten von Usman schnell in ihr Quartier zurück gedrängt. Natascha folgte ihnen nach und viele mit ihr. Die Polizisten versuchten sich in einem Büro im ersten Stock zu verschanzen waren jedoch zu langsam. Natascha, die ein langes Messer schwang, sprang über einen Tisch, den einer der Polizisten als Barrikade umgeworfen hatte und stach dem selben Polizeimann tief in die Kehle. Sofort eröffneten die anderen Polizisten das Feuer auf Natascha und einen Moment lang flogen Kugeln um sie herum. Dann hörte sie Schreie und einen Augenblick später war es still. Die 5 Polizisten, die es hierher geschafft hatten waren allesamt tot.
Sie betrachtete schwer atmend ihre blutigen Hände. Der Körper des Mannes, den die getötet hatte, hatte ihr das Leben gerettet. Ihr wurde schlecht, doch hielt sie dem Drang sich zu übergeben stand. Von draußen drangen immer noch Kampfgeräusche herein. So fühlt es sich also an, dachte sie. Sie hatte den Kampf gewollt und ihn bekommen. Sie versteifte den Nacken. Noch immer empfand sie Abscheu, doch nun nicht mehr übere ihre Tat sondern nur über ihr eigenes Gefühl von Scham den Mann getötet zu haben. Er war ein Rädchen im System gewesen. Ein System, dass Menschen ausbeutete und sie unterdrückte. Ein System, das man mit friedlichen Mitteln nicht mehr aufhalten konnte. Wenn sie ein paar Rädchen zerschlagen werden musste um das ganze Uhrwerk zu zerstören, dann sollte es ihr egal sein. Sie stand auf und fühlte sich nur noch kalt. Aleksander kam hereingestürmt. Er rief: "Natascha! Geht es dir gut?" und schlang die Arme um sie. Flüchtig erwiderte sie die Umarmung und beschmierte dabei Aleksanders Pullover mit Blut. Der junge Mann wirkte geschockt über die Eskalation der Dinge. "Jetzt beginnt endgültig die Revolution", sagte Natascha, als sei das die Antwort auf seine Frage. "Jetzt steht das Volk auf und erkämpft sich die Freiheit, die ihm solange verwehrt geblieben ist."
Sie ging zum Fenster des ersten Stocks und warf einen flüchtigen Blick auf die Straße. Dort bot sich ein schreckliches Bild. Mehrere Dutzend Tote lagen dort unten in Lachen aus ihrem Blut, die Gesichter schmerzverzerrt in alle möglichen Richtungen blicken. "Es gibt keinen anderen Weg", sagte Natascha leise zu sich selbst. Die Formation der Polizisten war aufgebrochen, was den Rebellen einen Vorteil verschaffte. Außerdem verlor sich die ganze Auseinandersetzung zunehmend in viele einzelne Gefechte, die sich über die ganze Stadt verteilten. Rebellen flohen und rafften sich wieder hoch. Menschen kam aus ihren Häusern um sich den Aufständischen anzuschließen oder einfach nur zu weinen.
"Ja, Maraticz", knurrte Natascha. "Hier hast du deine perfekte Welt!" Als vor ein paar Wochen die russische Regierung ganz offiziell vom Triumvirat aus Maraticz, Ossenbach und Guiry abgelöst worden war, da hatten die drei Männer nichts Geringeres als den Himmel auf Erden versprochen, doch gebracht hatten sie die Hölle. Im Grunde, das war den meisten Leuten klar, hatten sie schon viel länger in Russland regiert und die Staatsmänner paktierten allesamt mit ihnen. Sie bekamen viel Schmiergeld und wurden in Ruhe gelassen um als Gegenleistung dafür bedenkenlos ihre Unterschrift unter alles zu setzen, was man ihnen vorlegte. Doch seit die drei auch offiziell an der Regierung waren, war innerhalb nur weniger Wochen alles noch schlimmer geworden. Vor 2 Tagen hatte man in Woronesch das erste Mal 8 Obdachlose erschossen, einfach nur weil sie Obdachlose gewesen waren. Man hatte sie von der Straße aufgesammelt und ihnen versprochen für sie zu sorgen. Verzweifelt, wie die Männer und Frauen gewesen waren, waren sie gefolgt. Man hatte sie in Hinterhöfe gebracht und sie dort an die Wand gestellt um sie zu erschießen. Das schlimmste war, dass die Regierung sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, das ganze heimlich zu tuen. Natascha war, als Nonne verkleidet, in Woronesch gewesen. Es war helllichter Tag gewesen. Sie hatten eine Frau Mitte 50 einfach aufgehoben und mitgenommen. Natascha war ihnen in sicherem Abstand gefolgt. Sie hatte gesehen, wie sie die Frau auf einen verlassen Schulhof gezerrt und erschossen hatten. Zwei kleine Mädchen waren dort gewesen und hatten alles mitangesehen und die Männer des Exekutionskommandos hatten ihnen im Vorbeigehen zugelächelt.
Natascha, die daraufhin nach Usman zurückgekehrt war, fragte sich, was das System damit bezweckte und warum es solche Dinge nicht lieber heimlich tat. Dann wurde es ihr klar, als sie in sich hineinhorchte und sich daran erinnerte was sie in dem Moment gespürt hatte, als sie die Exekution beobachtet hatte: Ohnmacht.
Die Lügen, die das Regime verbreitete standen in einem so krassen Gegensatz zur Realität, dass sich selbst der Dumpfste ausmalen konnte, dass sie Lügen waren. Das scheinbar wahllose Erschießen von Menschen auf mehr oder weniger offener Straße, die Überwachung, die noch strenger geworden war, obwohl Natascha schon nicht mehr geglaubt hatte, dass das möglich wäre. All das diente dazu den Menschen das Gefühl von Ohnmacht zu vermitteln.
Wieder empfand sie Abscheu, doch diesmal nur darüber, dass sie überhaupt zugelassen hatte, das es soweit kommen konnte. Sie dachte wieder an ihren Vater. Hatte er wirklich die Seiten gewechselt? Irgendwie glaubte sie das nicht. Dafür war ihr Vater einfach ein zu großer Opportunist. Aber ihr fiel auch keine andere Erklärung ein. Sie ließ den Blick über die Straße schweifen und entdeckte mehrere Kameras. Sie wissen wo ich bin. Sie wissen wer ich bin. Was für Informationen könnten sie sich von meiner Freilassung erhoffen?
Aleksander trat von hinten an sie heran. "Gregor und Juri sind hier - und Gregor ist schwer verletzt", verkündete er mit brüchiger Stimme. Natascha wandte sich ab und folgte Aleksander. Er führte sie zurück in den Büroraum, in dem die Polizisten versucht hatten sich zu verschanzen. Ihre Leichen lagen auf dem Boden in einer Ecke, bedeckt mit den Büroartikeln, die vorher auf den Tischen gestanden hatten. Auf den Tischen lag jetzt Gregor. Er hielt sich eine Wunde unterhalb seiner Brust und Blut spritze im Takt eines flachen Atems heraus. Er bemühte sich um ein gequältes Lächeln als er Natascha sah, versagte aber dabei und wirkte nur noch elender. "Und dabei wollten... wir doch... doch nur das S-System zerstören", mühte er sich zu sagen und versuchte sich erneut an einem Lächeln. "Das werden wir auch, Gregor. Wir haben schon genug Schreckensherrschaften hinter uns. Eine schlimmer als die andere; wir brauchen nicht noch eine." Gregor schüttelte den Kopf, wobei er husten musste - er spuckte Blut. Natascha war kein Arzt, doch selbst ihr war klar, dass man Gregor nicht mehr retten konnte. Er würde noch ein paar Minuten im Todeskampf liegen und dann sterben. Das wollte Natascha ihm gern ersparen. Also ging sie zu den Leichen der Polizisten, zog einem die Pistole aus dem Halfter, ging zurück zu Gregor und hielt ihm die Waffe an die Schläfe. "Schlaf jetzt ruhig, Genosse Gregor.", flüstere sie. Dann drückte sie ab.
Einen Moment überlegte sie, was sie sagen sollte, dann entschied sie: "Das Beste wird sein, wir lassen seine Leiche hier liegen. Wer von euch mitkommen will nimmt sich eine Pistole. Ich gehe in jedem Fall daraus." Juri und Aleksander nahmen den Polizisten die Waffen ab. Doch Juri sagte: "Ich bleibe hier. Wenn wir zurückgedrängt werden, können wir uns hier verschanzen. Es sind auch ein paar Leute unten im Erdgeschoss." Natascha nickte. Aleksander jedoch erklärte sich bereit mit ihr zu kommen, außerdem drückte er ihr noch eine weitere Pistole in die Hand. "Zwei sind besser als eine", meinte er schlichte und steckte auch sich selbst zwei Pistolen in den Gürtel.
Als sie die Straße betraten hatten sich die Kämpfe längst in andere Teile der Stadt verteilt. Doch der Boden war mit Leichen übersät und mit Blut getränkt. Aleksander sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, doch Natascha reagierte nicht auf die Grausamkeiten die sich ihnen boten - zu mindest versuchte sie es. Vorsichtig durchkämmten sie die Straßen. Plötzlich sprangen hinter einer Mülltonne zwei Frauen hervor und Natascha zielte auf sie, doch auch sie waren Aufständische. Die beiden hatten nicht daran gedacht sich Waffen von toten Beamten zu versorgen, also gaben Aleksander und Natascha ihnen je eine und die beiden schlossen sich ihnen an.
Drei Straßen weiter entdeckten sie zum ersten Mal wirklich zwei Polizisten. Sie hatten ihnen den Rücken zugewandt, da sie um eine Häuserecke spähten, doch hörten sie sie kommen. Aber noch sie sich vollkommen herumdrehen konnten, hatte Natascha den ersten schon mit einem Schuss in die Brust getötet. Der zwei duckte sich hinter seinen Schild, der immerhin zwei Schüsse aushielt, ehe Aleksanders Schuss ihn zertrümmerte und seinen Träger tötete. Sie nahmen ihre Pistolen und gingen weiter. Sie entdeckten immer mehr Rebellen, doch keine weiteren Polizisten - bis sie auf einmal Schüsse hörten. Sie liefen ihnen nach und kamen an einem Supermarkt heraus. Vor ihm lagen die Leichen von vier Widerständlern. Ein fünfter starb gerade als Natascha und ihre Begleiter den Platz erreichten. Dort hielten sich zwei Männer hinter einem Auto versteckt. "Was ist passiert?", wollte Natascha von ihnen wissen. Die Männer keuchten. "Sie sind dadrin. Mindestens 30. Alle anderen Polizisten sind mittlerweile tot oder geflohen." Natascha nickte. Sie mussten den Supermarkt einnehmen und zwar möglichst bevor Verstärkung eintraf. Sie betrachte die Gruppe, die sich ihr angeschlossen hat: Etwas 50 Männer und Frauen, vielleicht 40 von ihnen hatten eine Feuerwaffe. Dann sah sie zu den Glastüren des Supermarkts und auf die Autos auf dem Parkplatz. "Ich glaube ich habe gerade eine dumme Idee", sagte sie langsam. "Kann hier jemand ein Auto kurzschließen?" Ein junger Mann, eher noch ein Junge, schlacksig und wettergegerbt meldete sich. Natascha trug ihm auf, das Auto vor ihnen kurzzuschließen. Es gab zwar noch zwei weitere hier auf dem Parktplatz, doch waren sie zu nah am Supermarkt.
Plötzlich hallten Schüsse zu ihnen herüber und alle gingen hinter der Parkplatzeinfriedung in Deckung. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis der Motor der Wagens ansprang. Mit vier Mann hingen sie sich an das Lenkrad, bis das Schloss mit einem lauten Knacken brach. Natascha sprang auf den Beifahrersitz. Der Junge, der das Schloss geknackt hatte, nahm hinter dem Steuer platz. Drei Männer, die Natascha nicht kannte, setzten sich auf die Rückbank. Ein Schuss zerbrach eines der hinteren Fenster. "Los! Und denkt dran den Kopf in Deckung zu halten!", mahnte Natascha. Der Junge drückte aufs Gas. Gleichzeitig sprangen die Rebellen hinter der Einfriedung hervor und stürmten auf das Gebäude zu. Die Polizisten reagierten fast, wie Natascha es sich erhofft hatte: Sie nahmen das Auto aufs Korn. Die Beamten hatten wohl eine lange Ausbildung genossen, die sie auf alle möglichen Situation hatte vorbereiten sollen, doch Natascha hätte ihren Hintern darauf verwettert, dass das Halten eines Supermarktes gegen den Angriff eines Autos nicht dabei gewesen war. Schüsse peitschen durch den Innenraum des Wagens und ließen die Reifen platzen, aber keiner der Insassen wurde verletzt. Der Motor drehte durch. Natascha sah für einen Augenblick hoch und konnte sich einen spitzen Schrei nicht verkneifen, als sie sah wie der Wagen durch die Glastür donnerte und Polizeimänner aus dem Weg sprangen.
Das Auto überfuhr einen der Männer, krachte durch ein Obstregal und eine Dosenpyramide und kam schließlich an der Kühlwarentheke zum stehen. Schüsse fielen, als die Rebellen versuchten den Laden durch die zersplitterte Tür einzunehmen. Der Junge riss die Fahrertür auf und wurde eine Sekunde später erschossen. Natascha feuerte über seinen Leichnam hinweg und tötete den Schützen. Auch die drei Männer sprangen vom Rücksitz auf und stürmten aus dem Wagen. Im Supermarkt herrschte ein heilloses Chaos, doch der gewagte Angriff schien den gewünschten Effekt gehabt zu haben. Es waren noch etwa 15 Polizisten übrig und die ergaben sich, als die von Rebellen umzingelt waren. Natascha zitterte am ganzen Körper und musste wieder mit sich ringen, um sich nicht zu übergeben. Sie war durchaus an extreme Situationen gewöhnt, das hier war allerdings etwas anderes. Und noch war der Kampf um Usman noch nicht vorbei, das wusste sie.
Sie sah die Truppe an, die sie hierher geführt hatte. In ihren Augen lag etwas wie Respekt - vielleicht sogar Ehrfurcht. "Fesselt sie", befahl sie probeweise und zu ihrem Erstaunen und ihrer Freude machten sich eine Frau und zwei Männer, mit denen sie noch nie geredet hatte auf um ihren Anweisungen zu folgen und den Laden nach Seilen zu durchsuchen. Sie kamen mit Kabelbindern zurück. Die Leute vertrauen auf mein Wort, wurde ihr klar. Als die Polizisten gefesselt waren, ließ sie alle auf dem Parkplatz zusammenkommen. Obwohl mehrere Widerständler bei der Einnahme des Supermarktes umgekommen waren war ihre Gruppe gewachsen, denn viele hatten das Schauspiel aus sicherer Entfernung beobachtet und kamen jetzt heran. "In Ordnung", sagte Natascha nach einer Weile. "Wir müssen verhindern, dass hier gleich Verstärkung auftaucht auch wenn es vielleicht schon zu spät ist. Ich kenne mich in Usman noch nicht allzu gut aus. Wie kommt man in die Stadt." "Im Osten gibt es eine Brücke über den Fluss Usman", antwortete ein Mann. "Außerdem noch zwei Zugänge im Norden und zwei im Westen", ergänzte eine Frau. "Diese Eingänge müssen wir versperren außerdem müssen wir Wachen aufstellen und unsere Versorgen mit Nahrung sicherstellen - es könnte durchaus sein, dass wir von der Außenwelt abgeschnitten werden" Einige wirkten bei diesen Worten erschreckt, doch die meisten nickten ernst um begannen dann selbstständig Gruppen zu bilden, die das eine oder das andere erledigen sollten. Auch für Dinge an die Natascha gar nicht gedacht hatte, zum Beispiel die Suche nach Polizisten, die sich vielleicht noch in Usman versteckt hielten oder einfach das Aufbahren der Toten. Natascha selbst nahm sich Aleksander und ging mit ihm zum Umspannwerk.
"Das wird den Leuten nicht gefallen!", mahnte Aleksander, doch Natascha entgegnete. "Es gibt zu viele Kameras in der Stadt. Für die wirklich wichtigen Sachen können wir von hier aus Kabel verlegen." Die Tür war abgeschlossen, doch sie hatte eine Brechstange mitgenommen und brach sie einfach auf. Innen war es blendend hell, da eine große Lampe von der Decke hing und den kleinen Raum in kühles Licht tauchte. Sie entdeckte einen großen Hebel an der Wand, der nur der Haupschalter sein konnte und legte ihn um. Mit einem Schlag erloschen sämtliche Laternen in Usman, die gerade erst vor wenigen Minuten zu leuchten angefangen hatten.
Endlich unbeobachtet, dachte Natascha und beobachtete, wie die Kontrolllämpchen der Kameras langsam erloschen. Für einige Sekunden stand sie nur da, atmete tief ein und aus, dann fing sie an zu weinen. Ob aus Trauer, aus Freude oder aus Wut wusste sie selbst nicht, doch Tränen rannen ihr übers Gesicht und sie fing an zu schluchzen, während sie sich zu Boden sinken ließ. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie nicht mehr laut geweint und nun kam alles wieder hoch. Aleksander setzte sich zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schulter. Sie ließ es geschehen. Nach einer Weile wurde sie wieder ruhig und Aleksander begann sie sanft hin und her zu wiegen. "Sie kommen wohl heute nicht mehr", sagte er irgendwann und meinte die Verstärkung für die Polizisten. Natascha lächelte und legte den Kopf an seine Brust. Sie saßen einfach so da, während um sie herum die Welt zerbrach.


Kommentare
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 9. August 2012 21:57

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
11. Szene


Drei Uhr morgens. Phillip schreckte aus dem Schlaf hoch. Er brauchte keinen Wecker mehr. Seine innere Uhr hatte sich längst an die Zeit gewöhnt. Wie jeden Morgen setzte er sich - um Strom zu sparen - im Dunkeln an den Frühstückstisch und aß muffige Cornflakes. Um danach die Zeitung zu lesen musste er allerdings doch die Lampe einschalten. Über einem Foto, das Simon Ignatius Fisher und Finanzminister Simon Bermel vor der Schuldenuhr zeigte, prangte die Überschrift "Neue Sanierungsmaßnahmen angekündigt" Für Phillip war das mittlerweile gleichbedeutend mit grausigen Nachrichten. Mit zittrigen Händen faltete er die Zeitung auf und begann zu lesen. Er stolperte über Passagen wie eine Rückkehr zur 7-Tage-Woche vorgeschlagen oder auch das Arbeitslosengeld II wird weiter gekürzt werden und bis Ende des Jahres nur noch 140D€ betragen. Andere Sozialleistung werden aber zunächst auf dem bisherigen Stand verbleiben
Phillip wurde schlecht, als er fertig gelesen hatte. Selbst zusammen mit Wohngeld - etwa 35 Deutsche-Euro im Monat - und anderen Gratifikationen würde das nicht einmal im Ansatz reichen um seine Miete zu decken. Er sah sich in der kargen Küche seiner kleinen Wohnung um und erschauderte. Er würde sich wohl einen Mitbewohner oder vielleicht sogar zwei nehmen müssen, sollte er jemals den Job verlieren. Wie auch immer er sie in der Einraumwohnung unterbringen sollte. Eine andere Möglichkeit fiel ihm nicht ein, dann seine Miete zahlen zu können – und dann wäre noch nicht mal geklärt was er essen sollte. Noch ein Grund pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Er duschte wie immer kalt und trat dann noch draußen auf die laternenerhellte Straße.
Er setze sich in die noch fast leere Bahn und der Zug ratterte los. Mittlerweile hatte er genug Geld für eine Montaskarte zusammengespart, sodass er diesmal keine Angst haben musste, wenn kontrollierte werden würde.
Unter den wachsamen Augen der Überwachungskameras stieg am Bahnhof aus. Die Luft hier unten in der U-Bahnstation stank wie immer noch einer ungesunden Mischung aus Schweiß, Urin und Kotze. Während er die Treppen hinauf ging warf er einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Sie zeigte 3 Uhr und 58 Minuten. Er würde noch ein paar Minuten Fußmarsch zur Backfirma haben. Seine Schicht fing eigentlich erst um 4:30 an, aber er hatte sich mittlerweile angewöhnt etwas früher da zu sein, um seinen Arbeitswillen zu demostrieren.
Um 4 Uhr 10 stand er auch wieder am Fließband, das Tag und Nacht lief, und legte die Backwaren zurecht, die schief darauf lagen, obwohl er erst ab 4 Uhr 30 dafür bezahlt werden würde. Tatsächlich waren schon viele Arbeiter, deren Schicht noch nicht begonnen hatte, da. Durch die unbezahlte Arbeit hofften sie bei ihrem Chef ein wenig Eindruck zu schinden. Fünf Minuten später erblickte Phillip auch Achmad. Der Deutschtürke, den Phillip gut leiden konnte, stellte sich ihm gegenüber ans Fließband. Die beiden lächelten sich kurz an – Gespräche am Arbeitsplatz waren mittlerweile verboten – und konzentrierten sich dann wieder auf das Fließband.
Irgendwann kam ein Aufseher von an ihnen beiden vorbei. „Becker!“, sagte er scharf und Phillip zuckte unwillkürlich zusammen. „Sehen sie mich an, wenn ich mit ihnen rede!“, verlangte er und Phillip drehte sich rasch um. „Und sie auch Gültekin!“, fügte er hinzu und Achmad blickte auf. „Der Chef will sie in ihrer Pause in seinem Büro sehen! Klar?“ Die beiden nickten und tauschten schnelle Blicke. Der Aufseher kniff die Augen zusammen. „Und sie kommen direkt mal mit, na los, kommen sie, Becker!“
Der Mann brachte ihn in den hinteren Teil der Firma und wies ihn an Bleche zu putzen. Die nächsten dreieinviertel Stunden brachte Phillip damit zu, die Backbleche mit einem Stück Stahlwolle von Rückständen zu befreien. Obwohl ihm die Oberarme bald schmerzten wartete er bange auf den Moment, wenn die Werksirene zur Pause rufen würde. Als sie dies schließlich tat, begann Phillip Herz unwillkürlich schneller zuschlagen und er ging mit einem mulmigen Gefühl zum Büro seines Chefs Scheer. Achmad wartete schon vor der Tür und sah so aus wie Phillip sich fühlte. „Er wird uns rauswerfen“, platze Phillip heraus. Achmad gab ein schwer zu deutenden Geräusch von sich und antwortete schließlich: „Ich weiß es nicht. Aber wenn er das tun wollte, dann würde es doch sicher vor versammelter Mannschaft tun.“ Phillip hoffte inständig, dass er recht hatte. Mit seinen kleinen Nebenjobs würde er sich nie im Leben länger als ein paar Monate über Wasser halten können. „Wie... geht es deiner Tochter“, fragte er um sich abzulenken. Achmads Gesicht verhärtete sich bei der Frage. „Es ist definitiv Multi Sklerose, sagt der Arzt.“ Achmads Tochter war vor drei Wochen mein Arzt gewesen. Es sollte eigentlich ein Routinebesuch werden. Doch nach der Untersuchung hatte der Arzt die Eltern bei Seite genommen und ihnen erklärt, dass ihre Tochter wahrscheinlich an Multiple Sklerose leide. Achmad wollte es nicht wahr haben. Der Arzt hatte sie an einen seiner Kollegen, der auf diesem Gebiet versierter war, verwiesen. Eine Tage lange konnten sich die verzweifelten Eltern noch an den Strohalm klammern, dass es sich um eine Fehldiagnose gehandelt habe. Doch nun war offenbar die schreckliche Gewissheit gekommen.
Phillip sagte etwas wie: „Das arme Kind“, war aber mit den Gedanken ganz weit weg.
Der Knauf der Bürotür drehte sich und der Filialleiter Scheer öffnete. „Gültekin! Sie zuerst“, sagte er schlicht. Achmad atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen, warf Phillip noch einen letzten Blick zu und betrat dann das Büro.
Zehn Minuten verstrichen und die Sirene rief wieder zur Arbeit. Phillip war sich unsicher, ob er wieder ans Werk gehen sollte oder ob man von ihm erwartete hier zu warten. Er entschied sich für Letzteres. Tatsächlich öffnete sich die Tür Fünf Minuten darauf erneut. Wieder lugte Scheer heraus und befahl: „Jetzt Sie Becker. Kommen Sie!“
Phillip betrat den Büroraum von Achamad war keine Spur. Doch hatte der Raum zwei Eingänge und nicht nur einen. Vermutlich war er also schon wieder bei der Arbeit – sicher gab es keinen Grund zur Beunruhigung. Scheer setzte sich an seinen Schreibtisch an der hinteren Seite des Raumes und bedeutete Phillip mit einer Geste, sich ihm gegenüber zu setzen.
Er schwieg ihn eine Zeit lang einfach nur an. Dann begann er: „Herr Becker der Bäcker...“, die Vorstellung schien ihn zu amüsieren und er genehmigte sich ein kleines Lächeln. Phillip tat es ihm hastig nach. „Üben sie ihren Beruf gerne aus?“ „Oh ja, Herr Scheer“, log Phillip. „Ich freue mich jeden Morgen hier zu arbeiten.“ Scheer lächelte wieder. „So, Herr Becker, das freut mich zu hören. Aber wissen sie, der Backwarenmarkt ist hart umkämpft heutzutage. Wären sie denn auch bereit Sonntags einen halben Tag unbezahlt zu arbeiten – damit wir konkurrenzfähig bleiben?“, bohrte Scheer nach. Phillip biss sich auf die Lippe sagte aber: „Sicher, Herr Scheer. Wenn es dem Betrieb nützt.“ Das Grinsen des Filialleiters wurde breiter. „Würde ihnen das den gar nichts Ausmachen? Ich meine: Es ist doch siher eine zusätzliche Belastung für sie und ich kann verstehen, wenn sie diese Leistung irgendwie vergütet haben wollen.“ Phillip wollte eigentlich sagen: Selbstverständliches ist es eine zusätzliche Belastung für mich. Außerdem wäre es nur fair dafür wenigstens bezahlt zu werden. Doch stattdessen kamen die Worte: „Nein, wirklich nicht! Ich arbeite gern für diese Firma.“ aus seinem Mund.
Scheers Grinsen war jetzt so breit, wie das eines Frosches und er sagte in süffisantem Ton: „Braver Papagei! Nimm dir einen Keks!“ und er schob ihm eine Dose herüber. Phillip war verwirrt „Wie bitte?“, fragte er. „Einen Keks!“ Phillip, immer noch konfus, griff in die Dose und nahm sich einen Keks. Er schmeckte pappig verursachte ein seltsam taubes Gefühl auf Phillips Zunge. Doch auf die Frage seines Chefs, wie der Keks schmecke antwortete er: „Oh, sehr lecker!“
Jetzt musste Scheer endgültig lachen. „Wissen Sie was?“, sagte er und stand auf. „Sie sind ein Lügner Becker. Der Keks schmeckt grässlich. Es würde ihnen sehr wohl etwas ausmachen sonntags unbezahlt zu arbeiten. Sie hassen ihren Jobs“ Phillip schien unter seinem Blick zusammenzuschrumpfen. „Sie sind ein kleiner feiger Lügner ohne jegliches Rückgrat. Immernur darauf bedacht zu gefallen... Wissen sie was?“ Phillip schüttelte den Kopf. „Das ist genau das, was wir brauchen.“, sagte Scheer und setzte sich wieder.
Jetzt war Phillip endgültig baff. „Sie lernen sich anzupassen, Becker“, fuhr Scheer fort. „Das ist gut. Ich glaube sie sind einer der wenigen in diesem Betrieb die zu wissen scheinen was die Devisen sind, nach denen man handelt. Sie könnten es in dieser Firma noch weit bringen, wäre da nicht diese eine Sache.“ Phillip, der gerade angefangen hatte sich über das seltsame Lob zu freuen fragte bestürzt: „Welche eine Sache?“
„Nun wissen sie“, begann Scheer und lehnte sich im Stuhl zurück. „Vor einer Woche, ja genau heute vor einer Woche, sind zwei Teigrohlinge vom Fließband verschwunden. Trotz unserer Überwachungskameras konnten wir den Dieb nicht einwandfrei feststellen. Aber wir konnten den Kreis der Verdächtigen eingrenzen. Und übrig blieben nur Herr Gültekin und Sie, Herr Becker. Nun das reicht leider nicht um den Dieb gezielt zu bestrafen, aber Sie müssen verstehen, dass ein gewisses Misstrauen bleibt. Deshalb kann ich Sie leider nicht befördern, Herr Becker. Außerdem, so fürchte ich, werde ich ihr Gehalt kürzen müssen. Nur als kleine Abschreckungsmaße.“ „Mein...mein Gehalt kürzen?“ „Ja, um mindestens 30 Prozent. Es sei denn natürlich wir könnten den Dieb eindeutig feststellen.“ In Phillips Kopfs überschlugen sich die Gedanken. Eine Gehaltskürzung um 30 Prozent. Er würde mit den Mieten nicht mehr hinterher kommen.
„Achmad war es!“, platzte er schließlich heraus. Scheer zog eine Augenbraue hoch. „Was verleitet Sie zu dem Schluss?“ „Sie haben doch selbst gesagt, dass es nur einen von uns beiden sein kann. Und ich war es nicht.“ „Ich würde ihnen ja gerne glauben Becker, aber Sie sind nun mal ein Lügner. “ „Bitte! Ich schwöre es! Sehen Sie sich ihn doch nur an! Seine hässliche, diebische Türkenfratze“,beteuerte Phillip. Scheer schmunzelte. „Becker... ich glaube ihnen.“ Ein Stein viel Phillip vom Herzen. Doch Scheer war noch nicht fertig. „Das bedeutet natürlich den Rauswurf für Gültekin. Er kann froh sein, dass wir ihn nicht anzeigen“ „Natürlich“, sagte Phillip, als sein Chef schwieg.
Ein war Moment lang schwiegen alle, dann schlug Scheer vor: „Am besten sagen Sie es ihm. Und sagen Sie ihm auch warum er fliegt.“ Phillip hatte es so eilig aufzustehen, dass er fast den Stuhl umriss, auf dem er gesessen hatte. Als er an der Tür war, hielt Scheer ihn jedoch noch einmal auf: „Ach ja Becker... ich muss sagen, Sie haben sich die Beförderung wirklich verdient.“ Dann ließ er ihn gehen.

Ingo Scheer grinste in sich hinein, nachdem sein Mitarbeiter die Tür hinter sich geschlossen hatte. Eigentlich hatte er ihm noch nachrufen wollen: „Herr Becker, Ihnen ist doch klar, dass nie irgendwelche Teigrohlinge in unserer Firma verschwunden sind, oder?“ Doch er hatte er bleiben lassen. Er wollte das kleine Spiel nicht auf die Spitze treiben, außerdem war es sowieso offensichtlich. Becker wusste genauso gut wie er, dass dieser Türke so unschuldig wie ein Lämmchen war. Jedenfalls würde er jetzt einen guten Bericht an seinen Chef – den Eigner der gesamten Fresh-&-Back-Kette - schicken können. Es war auch nicht schwer gewesen. Er hatte sich nur an die Anweisungen gehalten, die sein Chef an alle Filialleiter herausgegeben hatte und es ein wenig mit seinen eignen Einfällen gewürzt. „Brillianter Kopf“, sagte er zu sich selbst und strich über die Broschüre, die sein Vorgesetzter zu diesem Thema hatte verteilen lassen. Sie trug den Titel: „Instruktionen zur Verankerung des ökonomischen Denkens in der Gesellschaft – von Simon Ignatius Fisher“

„Achmad, du bist raus“, eröffnete ihm Phillip ohne Umschweife. „Sie feuern dich – fristlos befürchte ich.“ Achmad wurde gefährlich ruhig. Nach etwa einer Minute fragte er nur: „Wieso?“ „Scheer hat es mir erklärt, ich habe es nicht richtig verstanden. Es geht wohl um irgendein altes Gesetz, dass Arbeitsstellen vorwiegend an Deutsche ohne Immigrationshintergrund vergeben werden sollen.“ Einen Moment lang sah Achmad Phillip nur entgeistert an, eine Ader zuckte auf seiner Stirn. Dann schrie er los: „Willst du mich eigentlich verarschen?!? Er hat dir auch diese erfundene Geschichte mit den Teigrohlingen erzählt, stimmt´s? Er hat dir auch gesagt er wüsste nicht wer uns beiden sie gestohlen habe und dass er deshalb unsere Löhne kürzen werde. Er hat dir auch angeboten straffrei aus der Sache raus zukommen, wenn du den anderen verpfeifst, wie? Und ich Trottel nehm dich auch noch in Schutz und sage, dass du es nichts warst. Hätte ich wenigstens gesagt, dass du diese beschissenen Teigdinger geklaut hättest, dann hätte Scheer uns wenigstens beide rausgeschmissen. Aber jetzt...“ Achmad ging vor Phillip hin und her. Sie standen in einer Ecke des Fertigungsraumes und alle glotzten sie an, aber das war Achmad im Moment herzlich egal. Ihm fehlten die Worte, sosehr raste er. „Und ich hatte gedacht, wir wären sowas wie Freunde“, sagte er schließlich nur.
Phillip sah ihn etwas abschätzig an uns meinte: „Tja, wenn man überleben und vorwärts kommen will, dann muss man Freundschaften, halt manchmal über Bord werfen. Nur der Stärkste überlebt.“ Achmad baute sich drohend vor ihm auf und in diesem Moment wurde Phillip schmerzlich bewusst, dass der Deutschtürke an die 1,90 Meter maß, während er selbst nur bei etwa 1,70 Meter lag. „Halt doch einfach die Fresse, du dämliches Arschloch!“, knurrte Achmad nur, wandte sich auf dem Absatz um und stolzierte hoch erhobenem Hauptes aus der Halle.


Kommentare
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 30. August 2012 22:08

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
12. Szene


Es war ein sonniger, warmer Tag auf der Insel Elba; der 15. Mai des Jahres 2029. Fisher saß auf der Terrasse der Villa San Marino und trank einen Schluck Rum, während er beobachtete, wie drei schwarze Limousinen den Zufahrtsweg hinauf kamen. Aus der ersten stieg ein hagerer Mann aus. Er war noch ein paar Jahre älter als Fisher, um die 65. Das graumelierte Haar streng zurückgekämpft und mit einem strengen Blick, der alles im Auge behielt. "Karl Ossenbach, willkommen in meinem bescheidenen Heim!", grüßte Fisher ihn ohne aufzustehen. Karl Ossenbach, Inhaber der Waffenschmiede Heckler&Koch, wirkte verdrießlich als er aus dem Wagen stieg. Er trug ungeachtet der Temperaturen einen schwarzen Nadelstreifenanzug mit Weste. Die Lackschuhe knirschten über die Kieseinfahrt. Er setzte sich ohne ein Wort zu sagen und schaute seinen Kollegen beinahe grimmig an.
Aus dem zweiten Wagen stieg ein Mann, der es ins andere Extrem trieb. Ein buntes T-Shirt mit dem Graffiti ähnlichem Aufdruck eines großen Modelabels spannte sich über seinen etwas rundliches Baucs. Da runter trug er eine kurze, karierte Hose. Eine Sonnenbrille verdeckte sein Gesicht, dennoch erkannten beide Männer den Tscheschen. Er hieß Meletij Maraticz - Chef von Prirodnyi gaz Sibir - der Nachfolgerin von Gazprom. Zusammen mit Ossenbach leitete er Regierung Russlands. "Achja, der gute Simon Fisher! Ob ich hier wohl einen Drink bekomme?", fragte er, was ihn einen missbilligenden Blick von Ossenbach einbrachte. Auch Fisher runzelte die Stirn rief jedoch: "Melanie!", woraufhin ein hübsches brünettes Mädchen von vielleicht 20 erschien und Maraticz' Bestellung - einen Martini – entgegen nahm. Mittlerweile hatte auch der dritte Wagen die Einfahrt erreicht, der den beiden ersten in etwas größerem Abstand gefolgt war. Sein Insasse war George Jacobson. In den USA geboren, war er mit Getreidespekulationen reich geworden und nun "Sonderbeauftragter" des United Kingdom.
"Nun, Herr Fisher", eröffnete Ossenbach das Gespräch, mit unverhohlen gereiztem Unterton. "Sie haben uns noch immer nicht genau gesagt, worum es hier heute gehen soll." "Ja", gab Fisher kurz angebunden zurück. "Und ich würde es vorziehen dieses Versäumnis drinnen nachzuholen." Ohne noch etwas Weiteres zu sagen stand er auf und begab sich ins Haus. Die anderen folgten ihm etwas mürrisch und Karl Ossenbach warf ihm einen vernichtenden Blick nach.
Drinnen führte er sie an einen Tisch, der für Acht Personen ausgelegt war. Sie setzten sich so, dass immer ein freier Stuhl zwischen ihnen war. "Nun", begann Fisher zu erklären "Meine Herren, wir haben uns vor Jahren zusammengetan, um an unserer Vision einer neuen Gesellschaft zu arbeiten. Schon damals - 2019 - war unser Ziel klar, doch unsere Vorstellungen über die Wege es zu erreichen gingen doch teilweise auseinander. Ich denke es ist höchste Zeit unsere Arbeitsergebnisse einmal intensiv zu vergleichen, statt immer nur kurze Berichte abzugeben und lesen."
"Das ist alles?", fragte Jacobson mit gerunzelter Stirn. "Wozu die Geheimniskrämerei?" Fisher ging nicht auf die Frage ein, sondern fuhr fort: "Eigentlich hätte ich gerne zuerst einen Bericht aus Italien gehört, doch leider ist Bessarion wohl unpässlich... wie dem auch sei. Herr Jacobson, möchten sie beginnen?" Der Amerikaner schnaubte, sagte jedoch: "Also gut Fisher, sie wissen ja wie ich die Dinge anpacke. Die Menschen sollen nicht merken, was um sie herum passiert - ist ohnehin gesünder für sie. Man muss eine solche Umwälzung also vorsichtig angehen. Sie preschen da, für meinen Geschmack ,schon ein wenig zu weit vor Fisher." "So?" "Sagen sie kennen sie die Geschichte vom Frosch im Kochtopf?" "Nur aus französischen Restaurants", entgegnete Fisher mit schiefem Lächeln. "Nun es ist so:", fuhr Jacobson fort. "Wenn sie einen Frosch in heißes Wasser werfen, dann spring er raus. Wenn sie ihn aber in warmes Wasser werfen und die Temperatur langsam erhöhen, bis das Wasser kocht, dann bleibt der Frosch im Wasser bis er stirbt."
"Verschonen sie uns mit ihren seltsamen Metaphern und kommen sie zum Punkt!", beschwerte sich Ossenbach. "Gesellschaften verhalten sich ähnlich", sprach er weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. "Wenn sie ihre Macht zu schnell etablieren wollen, dann werden sie auf Widerstand in der Bevölkerung stoßen, wenn sie es jedoch langsam angehen..." Er machte eine Kunstpause. "Nun im Moment bin ich noch Wirtschaftsberater der Regierung - mit weitreichenden Kompetenzen. In einem Jahr werde ich mächtiger sein als der Premier und in noch einem Jahr werde ich die Regierung von Großbritannien fast alleine inne haben."
Ossenbach lachte verächtlich. "Ja, wenn sie so lange warten wollen. Und ich an ihrer Stelle würde nicht darauf vertrauen, dass die Briten alle so dumm wie Frösche sind. Vielleicht guckt ja mal eines ihrer Fröschlein ins Wasser herab und sieht wie die ersten Bläschen aufsteigen. Was machen sie dann?" "Wenn sie zugehört hätten wüssten sie, dass der Sinn meiner Methode ist, das die Frösche denken, es sei ganz normal, wenn auf einmal Bläschen aufsteigen, sobald es soweit ist. Mann muss die Leute ein wenig von der Kette lassen. Ihnen vorgaukeln, dass es noch immer Opposition und dergleichen gibt. Einlullen und Gewöhnung sind da wichtige Stichwörter."
Ossenbach zischte höhnisch und sagte, auf den Tisch schlagend: "Und Ohnmacht ist mein Stichwort! Was machen sie, wenn sie eines ihrer Hündchen mal zu weit von der Leine lassen? Was wenn jemand auf die Idee kommt, wirklich etwas zu verändern?" Jacobson wollte antworten, doch Ossenbach kam ihm zuvor, indem er aufstand und sich über den Tisch beugte. Sein schwarzer Anzug und sein fast kahler Kopf ließen den großen, alten Mann beängstigend wirken. "Nein, jetzt hören sie mir mal zu, sie Schmalspur-Diktator. Sie haben wohl Angst richtig hart durchzugreifen. Ich seh es doch in ihren Augen, dass sie Angst haben auch mal eine Massenexekution zu befehligen." Er grinste boshaft.
Das war zu viel für Jacobson. Auch er stand auf und sah Ossenbach wütend an: "Ich habe es nicht nötig mich von ihnen als feig bezeichnen zu lassen, nur weil ich anstatt ihren Brechstangen-Methoden, lieber mein Gehirn benutze, Herr Ossenbach"
"Oho!", machte Ossenbach und sah sich in der kleinen Runde um. "Und was hat ihr Gehirn bislang für Erfolge erzielt?", verlangte er zu wissen. "Na los! Ich will Zahlen hören." "Eine Steigerung des BIP von 19% und mir unterstehen bereits vier Ministerien! Und ich kann mich immer weiter in den Staat einkaufen." "Oho, der Herr kann sich einkaufen!" Ossenbach ließ sich zurück in seinen Sitz fallen und lachte gekünstelt. Maraticz stimmte darin ein und selbst Fisher, der das Geschehen bisher mehr oder weniger passiv beobachtet hatte, lächelte matt. "Das war schließlich, wenn ich mich recht erinnere, der Ausgangspunkt unseres kleinen Spielchens. Sonst haben sie also keine Erfolge vorzuweisen, Jacobson?", fragte Ossenbach mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ach und was ist mit ihnen?“, giftete Jacobson zurück. „Wie ich höre bringt ihre kleine Ohnmachtstaktik eine Menge Leute gegen sie. auf“ Das konnte nun wahrlich nicht das Grinsen von Karl Ossenbachs Gesicht wichen. „Ach sie meinen diese unbedeutenden Aufstände in Sankt Petersburg und Usman.“ „Und Kaliningrad, wie ich hörte.“ „Ach ja, in Königsberg ja auch... Das sind nun einmal die normalen Reaktionen und es wäre schlimm, wenn es sie nicht gäbe. Sehen Sie mal: Jeder niedergeschlagene Aufstand, jeder tote Rebell, jede Leiche eines Systemkritikers, die ich im Fernsehen zeigen lasse, erhöhen das Gefühl von Ohnmacht. Ohnmacht führt zu Resignation und schließlich dazu, dass sich die Menschen mit den neuen Verhältnissen abfinden. Sie sehen: Ich erreiche mehr als sie und zwar in geringerer Zeit.“
Jaobson verschränkte die Arme. „Falls Sie den Tag überleben, an dem sich die Massen gegen Sie erheben.“, sagte er mürrisch „Oh, aber dieser Tag wird nie kommen. Glauben sie mir!“ „Das mag vielleicht in Russland klappen, wo die Menschen vom Zaren an Stalin und dann an Sie weitergereicht wurden, aber niemals im Vereinigten Königreich.“
„Wenn Sie das glauben...“, meinte der hagere Mann und wandte sich an Fisher. „Und was ist mit Ihnen, Simon? Erzählen sie doch mal aus ''good old Germany''!“
Fisher, der bislang nur zugehört hatte, was seine Kollegen erzählten sah zur Decke, als müsse er überlegen, was er sagten sollte und begann schließlich: „Nun man könnte sagen, ich bin der Kompromiss zwischen Ihnen beiden.“ Er lächelte süffisant. „Tatsächlich wollte ich Ihnen schon länger einmal fragen, wann Sie beiden sich in solche Gutmenschen verwandelt haben.“ Jacobson runzelte die Stirn und Ossenbach wirkte, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen. „Was meinen Sie damit? Erklären Sie sich!“, forderte er von Fisher.
Das Lächeln des Sonderbeauftragten von Deutschland wurde eine Spur breiter und er setzte sich aufrechter im Stuhl auf. „Na was verleitet sie beiden zu der Annahme, dass Täuschung oder Gewalt nötig seien um die Menschen auf Linie zu bringen?“ „Jahrelange Erfahrung“, antwortete Ossenbach recht kühl. Fisher schüttelte leicht den Kopf. „Nein – nicht unbedingt zumindest. Sehen sSe, Herr Ossenbach, Herr Jacobson und Herr Maraticz. Was ist der ureigenste Trieb des Menschen?“ Maraticz, der nur bedingt aufmerksam zu sein schien, zuckte leicht mit den Schultern. Doch Ossenbach sagte wie aus der Pistole geschossen: „Angst!“
„Und genau das glaube ich ganz und gar nicht. Es gibt nämlich noch einen Trieb, der noch viel tiefer im Menschen steckt als Angst. Einen der ihn dazu bringt seine Angst zu vergessen.“ „Und zwar?“, fragte Ossenbach ungeduldig.
„Gier, Karl! Es ist Gier. Wissen sie: Bei ihnen beiden sehe ich das selbe Problem. Sowohl bei ihrer Ohnmachtsstrategie, als auch bei ihrer Täuschungsweise: Sie schaffen ungewollt eine Solidargemeinschaft. Wollen wir eine Solidargemeinschaft? Ich denke nicht. Und das Schlimmste: Diese Gemeinschaft ist gegen Sie gerichtet.“ Ossenbachs Blick begann sich zu verfinstern, doch Jabocson wirkte ehrlich interessiert. „Sie kennen meine Meinung dazu: Es muss uns darum gehen wirtschaftliches Konkurrenzdenken tief in der Gesellschaft zu verankern. Noch tiefer als es momentan der Fall ist. Das bringt mir einige Vorteile: Die Leute strengen sich auf der Arbeit mehr an und sind somit produktiver. Außerdem muss ich weder einen Aufstand gegen mich befürchten, noch, dass meine Regierungsweise als Täuschung entlarvt wird. Denn der Feind meiner Untertanen sind andere meiner Untertanen. Ich muss sie nicht über die Art der Staates in dem sie Leben täuschen, wenn ich ihnen weiß machen kann, dass diese Art von Regierung das Ziel ihrer Träume ist. Verstehen Sie?“
„Ich verstehe, dass ich froh bin, dass wir damals vereinbart, dass wir uns nicht in die Art und Weise, wie die anderen ihren Staat führen einmischen.“, knurrte Ossenbach. „Ja, aber vielleicht war das ein Fehler“, sagte Fisher leichthin und die Augen seines Gegenübers wurden gefährlich schmal. Fisher bemerkte das und fügte schnell hinzu: „Nicht, dass ich mich in ihre Angelegenheiten einmischen will... aber sollte jemand von uns hier Probleme bekommen, wäre es sinnvoll wenn die Anderen davon wüssten und helfen könnten. Das war einer der Gründe, aus denen ich diese Versammlung hier einberufen habe.“
„Wie niedlich von ihnen, dass sie sich um mich Sorgen machen, aber ich denke<“ „Oh bilden sie sich mal bloß nichts ein, Herr Ossenbach“, unterbrach Fisher ihn. „Aber sie wissen genauso gut wie ich, dass ein einzelner Umsturz eine ganze Kettenreaktion auslösen kann. Arabischer Frühling, die Mesoamerikanische Emanzipation in den frühen Zwanzigern... es gibt genug Beispiele aus unserer Zeit. Ich will einfach nicht wegen ihnen meine Position aufgeben müssen. Dazu, muss ich doch zugeben, genieße ich sie einfach viel zu sehr“ „Er hat recht, finde ich“, meldete Jacobson sich zu Wort „Sollte jemand ins Wanken geraten sollten wir um unserer Selbst Willen dafür sorgen, dass er nicht fällt.“
Ossenbach wirkte noch immer verärgert, sagte jedoch. „Ich fürchte also, dass Sie solche Treffen in Zukunft öfters halten wollen, nicht wahr?“ „In der Tat.“ „Nun, dann werte ich es als gutes Zeichen, dass zu diesem Treffen kaum jemand erschienen ist – es scheint also noch niemand ins Wanken gekommen zu sein.“, meinte Ossenbach mit überlegenem Lächeln. „Aber Sie sind gekommen, Herr Ossenbach.“ gab Fisher mit einem noch breiterem Grinsen zurück. „Also, wollen Sie uns von ihren Nöten erzählen?“ „Wirklich komisch, Fisher!“, sagte der Chef von Heckler&Koch scharf.
„So komisch finde ich das gar nicht, schließlich soll das kleine Städtchen Usman seit zwei Tagen von Rebellen besetzt sein und das Oblast Kaliningrad scheint sich ihrer Kontrolle zu entziehen.“
Karl Ossenbach gab ein schwer zu beschreibendes Geräusch von sich, dass jedoch deutlich davon zeugte, dass in dieses Gespräch langsam aber sicher auf die Nerven ging. „Ja, aber allerdings nur, weil mir der Bürgermeister von Woronesch zunächst versichert hat, dass er die Lage unter Kontrolle habe. Und was Königsberg betrifft: Nun Lettland und Litauen haben meinen Panzern keine Durchfahrt gewährt – verdammter Brozka, daher mussten sie einen Umweg durch Weißrussland und Polen nehmen. Sie sollten aber heute in den Abendstunden die Stadt erreichen und für etwas Ruhe sorgen.“ „Wollen wir es hoffen“, gab Fisher schlicht zurück.
Der Rest des Nachmittages drehte sich vor allem und Zahlen und Detailfragen. Fisher wollte ein Sonderangebot für Waffen aus Ossenbachs Firma aushandeln, da der ja schließlich auch etwas davon habe, wenn Deutschland ruhig sei und der Sitz von Heckler&Koch ja immer noch in Deutschland liege. Ossenbach hingegen pochte darauf, dass er sich selbst keinen Sonderpreis mache , sondern seine Waffen immer zum vollen Preis von russischen Staatsetat kaufe. Schließlich einigten sich die beiden zerknirscht auf 5% Nachlass auf alle Handfeuerwaffen und noch einmal weitere 5% sollte die Lage in Deutschland irgendwann einmal kritisch werden. Gegen halb vier ging Jacobson und flog mit seinem Jet zurück nach London. Eine halbe Stunde später kündigte auch Ossenbach an, dass er gehen wollte und Maraticz schloss sich ihm an. Doch bevor sie gingen fragte Fisher noch: „Herr Ossenbach, kann ich Sie grade noch einmal kurz unter vier Augen sprechen?“ Der Angesprochene zuckte mit den Achseln und Fisher führte ihn in ein Raucherzimmer, das sich an den Verhandlungsraum anschloss. Nachdem er sich versichert hatte, dass Maraticz mit Melanie beschäftigt, sah er seinen Kollegen missmutig an und fragte: „Was soll dieser Clown, Karl? Wir waren uns doch einig, dass Sie ihn loswerden, sobald Sie an der Macht sind“ Karl Ossenbach lächelte und sagte: „Nun Simon, Sie müssen einsehen, dass dies nun mal der reichste Clown zwischen dem Ural und Kamtschatka ist. Und solange ich mir nicht sicher sein, dass seine Besitzverhältnisse auf mich oder meinen Staat übergehen werden, werde ich den Teufel tun ihn aus dem Weg zu räumen.“ „Und wann wird das der Fall sein?“ „Geben Sie mir zwei Monate“ „Ich nehme Sie beim Wort, Karl!“ „Keine Angst. Ich bin selbst froh in loswerden zu können.“ „Was genau haben Sie vor?“ „Nun er ist einfältig genug, dass man ihm vorschlagen kann seinen Lebensabend in überschäumenden Luxus und ohne irgendwelche Macht auf den Kanaren zu verbringen. Sollte er nicht darauf eingehen, dann gibt es immer noch tragische Unfälle und Russland ist in der Tat ein gefährliches Land.“ „Sie erstaunen mich, Karl. Ich hätte Ihnen eher zugetraut direkt zu den Unfällen überzugehen.“ „Nun ich muss zugeben eine gewisse Sympathie für seinen Vater gehegt zu haben, der aber leider nichts von seinem Genie an seinen Sohn vererbt hat. Dieser Einfaltspinsel von Meletij wäre doch nie auf die Idee gekommen bei einem Projekt wie dem unsrigen mitzuwirken. Nein ich glaube der Junge will eigentlich nur die Millionen seines Vaters irgendwo in der Karibik verprassen und sich mit 40 zu Tode schnupfen.“ „Also eine durchaus hoffnungsvolle Zukunft!“, meinte Fisher und blickte zur Tür, hinter der Meletij Maraticz stand. „Ja, ja durchaus! Und wenn sie mich jetzt entschuldigen würden, Simon. Ich habe das ungute Gefühl, dass im Kreml ein Haufen Berichte auf mich wartet.“
Damit verließ er den Raum und ging zusammen mit dem Tschechen nach draußen, wo sie in getrennte Limousinen einstiegen.
Fisher hingegen blieb in dem Zimmer sitzen und zündete sich eine dicke Zigarre an, während er überlegte was er als nächstes tun konnte um seine Position auszubauen.




Kommentare
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 9. Oktober 2012 18:23

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
13. Szene


Als Natascha erwachte, bemerkte sie als erstes, dass Aleksander schon aufgestanden war. Sie sah sich in dem schummrigen Gästezimmer um, das man den beiden überlassen hatte und erblickte ihn am Fenster. Er war schon angezogen und blickte über die Straße, die noch im Dämmerlicht der aufgehenden Sonne lag.
Natascha erhob sich aus dem Bett, trat an Aleksander heran und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Aleksander schmunzelte leicht und nahm ihre Hand, doch er ließ die Straße nicht aus den Augen. „Immer wachsam?“, fragte sie mit kaum wahrnehmbaren Spott in der Stimme. „Ja“, antwortete Aleksander knapp, jedoch nicht unfreundlich. „Du hast doch hoffentlich nicht die ganze Nacht hier gestanden.“ Aleksander antwortete nicht. Etwas säuerlich fügte Natascha hinzu: „Ich geh mich umziehen.“ „Tu das, Lasstatschka*“ „Und nenn mich nicht so!“, rief ihm aus dem Bad nach, musste dabei jedoch grinsen.
10 Minuten später standen die beiden vor der Tür des Hauses. Sie gingen über die Straße in ein Gebäude, dass eine große Turnhalle beherbergte. Es war die größte Halle von Usman und deshalb fanden hier die Treffen statt. Trotz der frühen Stunde war es drinnen gerammelt voll. Es war der dritte Tag nachdem die Aufständischem die Kontrolle über Usman errungen hatten – also der 16. Mai. Die Reaktionen der Einwohner waren unterschiedlich gewesen. Manche waren unter den Widerständlern gewesen und hatten an ihrer Seite gekämpft – etwa zwei drittel der knapp 1000 Menschen, die vor drei Tagen die Polizei in Straßenschlachten aus Usman verjagt hatten, waren Bürger der Stadt gewesen. Viele hatten sich an diesem zwar bedeckt gehalten hießen die Taten der Rebellen jedoch gut. Wieder andere hatten offenbar Angst vor den Konsequenzen. Nur wenige jedoch schienen sie für ihr Handeln zu verurteilen. Zumindest sagten es nur wenige offen. Natascha war es egal, dass es solche Leute gab, solange sie sie in Ruhe ließen. Sie konnte sie sogar verstehen. Die Kämpfe waren verlustreich gewesen. Von den 276 Polizisten – 242 aus den zwei angerückten Hundertschaften und 34 Orstpolizisten – waren 71 gestorben, 32 waren gefangen genommen worden und etwa 20 hatten sich freiwillig den Aufständischen angeschlossen. Der Rest war geflohen. Auf Seiten der Rebellen waren 139 Männer und Frauen gefallen. Ein gewaltiges Blutbad. Leider schien dieser Blutzoll ein Preis zu sein, der gezahlt werden musste. Natascha hatte selbst beim Zusammentragen und Säubern der Leichen geholfen.
Doch am Abend des 14. Mai waren Soldaten aus Woronesch gekommen und hatten versucht die Stadt von Süden her einzunehmen. Sie hatten jedoch den Fehler begangen zu wenig schweres Gerät mitzubringen. Lediglich einen Panzer, mit dem die improvisierten Straßensperren niedergewalzt hatten, hatten sie bei sich. Irgendjemand hatte es jedoch nur Sekunden später geschafft die linke Kette des Fahrzeugs zu sprengen, so dass es nicht mehr weiterfahren konnte. Trotzdem konnten die Rebellen die Soldaten nur durch ihre bloße zahlenmäßige Überlegenheit besiegen. Mindestens 30 von ihnen waren bei diesem Angriff gestorben. Wie viele Männer die Regierung verloren hatte, wusste keiner, da sie sich geordnet zurück gezogen und einen Teil ihrer Gefallen mitgenommen hatten, doch Natascha gab sich nicht der Illusion hin, dass es mehr als ein Dutzend gewesen waren.
Gestern Morgen war es ruhig gewesen. Sie hatten Wachposten mit Funkgeräten um Usman herum aufgestellt, die jedoch keine neuerlichen Angriffsversuche beobachtet hatten. Außerdem hatten sie es geschafft Waffen, Nahrung und zwei Notstromaggregate in die Stadt zu schmuggeln und ein paar Männer und Frauen aus Woronesch und den umliegenden Dörfern hatten sich ihnen angeschlossen.
Eine ausgemergelte ältere Frau aus Nikol'skoye hatte durchaus hoffnungsvolle Nachrichten gebracht, nämlich, dass in der Gesamten Region kleiner Aufstände ausgebrochen seien. Außerdem habe unabhängig von ihnen eine Revolte in Kaliningrad begonnen und St.Petersburg versinke im Chaos.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Stimmung in Usman noch einmal einen kurzen Höhepunkt erlebt, doch am Abend war das Flugzeug gekommen. Ein einzelner Jet war im Tiefflug dreimal über die Stadt geflogen und hatte schließlich eine Bombe abgeworfen. Nur eine einzige, doch sie hatte zwei Häuser komplett zerstört und drei weitere so gut wie unbewohnbar gemacht. Drei Menschen waren bei dem Angriff getötet worden, zehn weitere waren verletzt.
Danach war die Stimmung auf dem Boden gewesen und das bekam Natascha deutlich zu spüren, als sie zusammen mit Aleksander die Sporthalle betrat. Ihr Inneres wurde spärlich von Neonlampen erhellt, die mit einem der Notstromaggregate betrieben wurden. Sie leuchteten kaum halb so hell, wie sie es bei normaler Stromversorgung getan hätten, doch wenigsten konnten sie ausschließen, dass sie gleichzeitig versteckte Kameras und Abhörgeräte, wie es sie in vielen öffentlichen Gebäuden gab, mitzuversorgen.
Köpfe wandten sich nach den beiden um. Natascha war zu einer Art Anführerin geworden, ihr Wort zählte bei den Rebellen. Doch schienen auch viele der Menschen sie für die Situation verantwortlich zu machen – vielleicht nicht einmal zu unrecht.
Sie erblickte Juri auf der anderen Seite der Halle, der sie zu sich herüberwinkte. Also schlängelten sie und Aleksander sich durch die Menge, bis sie ihn erreichten. Bei ihm stand eine kleine Gruppe von Männern, bis an die Zähne bewaffnet mit Granaten, Schnellfeuerwaffen und bei einem sogar einer Panzerfaust.
„Was gibt es?“, wollte Natascha wissen. „Schlechte Nachrichten!“, antwortete der mit der Panzerfaust. „Und zwar?“ „Wir kommen aus Lipetsk. Wir haben von den Unruhen in Usman gehört und uns gedacht, es sei der richtige Moment um auch in unser Heimatstadt eine Revolte zu starten – es war eine Fehleinschätzung...“ Der Mann wirkte betrübt und ließ den Kopf hängen. Einer seiner Kameraden legte ihm die Hand auf die Schulter und murmelte etwas wie: „Sei nicht zu dir, Viktor!“
„Jedenfalls...“, fuhr Viktor fort. „Haben wir beschlossen uns euch anzuschließen. Hoffe doch, dass ihr nicht vorhabt aufzugeben und euch der Regierung auszuliefern!“ In ihrem Stolz gekränkt sagte Natascha etwas hochmütig. "Was mich angeht, werde ich mich nicht ergeben!" Auch Aleksander nickte zustimmend.
Viktor lächelte schief. "Das ist gut", meinte er. "weil euch nämlich auch gar nichts anderes übrig bleibt. Ossenbach hat angeordnet ein Exempel zu statuieren. Und Jelzin ist fest entschlossen diesem Verlangen nachzukommen." "Igor Jeltzin?", fragte Aleksander und runzelte die Stirn. "Ja, der ehrenwerte Igor Jelzin - verdammter Hurenbock! ... Als Bürgermeister von Lipetsk, also der Hauptstadt des Oblast, fühlt er sich anscheinend verantwortlich für Usman. Jedenfalls hat Ossenbach Panzer anrollen lassen und Jelzin hat verlauten lassen nicht eher zu schlafen ehe... wie hat er es formuliert? Das aufständische Gesindel in Usman in seinem eigenem Blut erstickt... ja ich glaube so war es. Wie auch immer: Die Sowjets waren nen Scheiß gegen ihn." Natascha schien die Bemerkung am Ende überhört zu haben. Sie war aschfahl geworden. Igor Jelzin, der aus privaten Mitteln eine kleine Armee unterhielt, stand in dem Ruf Exekutionen auch gerne mal persönlich zu vollziehen anstatt sie einem Scharfrichter zu überlassen.
"Wie viele sind es?", fragte Natascha schließlich. "Sechs Panzer, dazu noch zwei gepanzerte Truppentransporter. Insgesamt sicher 60 Mann oder mehr." "Habt ihr einen Plan?", fragte Aleksander. Er sah aus als müsse er sich gleich übergeben. "Nein", gab Viktor zu.
Natascha hatte die Hand ans Kinn gelegt. Sie schien zu überlegen. "Wir bräuchten eine Karte. Aber seit wir hier das gesamte Stromnetz gekappt haben, haben wir Internet mehr.", sagte sie wie zu sich selbst. "Ich habe eine", meldete sich einer der Männer aus Lipetsk. Er stellte seinen Rucksack, der gelb war vom Staub, auf den Boden und begann darin zu kramen. Schließlich zog er eine zerknitterte Landkarte hervor. Er breitete sie auf dem Boden aus. Natascha, Aleksander, Viktor und die anderen knieten sich im Kreis darum. "Wir sind hier", sagte Aleksander und deutete auf Usman. "Und hier liegt Lipetsk", fügte Viktor hinzu. "Sie werden die Hauptstraße nehmen", überlegte Natascha. "Sie müssen sich ja sicher sein, dass ihnen keine Gefahr droht. Wahrscheinlich fahren sie also durch Gryazi und Nischi... wo ist Nischi-Lipetsk?", fragte sie. Ihr Finger ruhte auf Gryazi, einer Siedlung südöstlich von Lipetsk. Darunter sollte sich eigentlich die junge Stadt Nischi-Lipetsk befinden, doch da war sie nicht.
"Die Karte ist von 2016", sagte der junge Mann, dem die Karte gehörte entschuldigend. Natascha grummelte und fuhr fort: "Naja... wenigstens der Verlauf der Hauptstraße müsste ja noch stimmen. Hier! Sie verläuft erst ein Stück weit südöstlich und dann fast genau südlich bis nach Usman. Und zwar schnurgerade. Da gibt es keine Kurve in der sie langsam fahren müssten, wo wir ihnen vielleicht auflauern könnten." "Und was ist hiermit?", fragte Aleksander und deutete auf einen kleinen Fleck in der Mitte zwischen Gryazi und Usman. "Dryazgi?", fragte Viktor stirnrunzelnd. "Ja, nichts! Das Dorf wurde schon vor fast einem Jahrzehnt verlassen. Es ist nur noch eine Wüstung!" "Das ist doch ideal!", sagte Aleksander und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. "Wir können uns zwischen den Ruinen verbergen und sie dann aus dem Hinterhalt angreifen." "Ein paar morsche Häuserreste werden uns nicht viel Schutz bieten", gab Viktor zu bedenken. "Trotzdem", sagte Natascha entschieden. "Wir können nicht warten, bis sie Usman erreicht haben. Und besser ein paar Ruinen als offenes Feld. Viktor, weißt du, wann die Panzer ausrollen?" "Nein, aber ich bezweifle, dass wir es rechtzeitig bis nach Dryazgi schaffen - jedenfalls nichts zu Fuß und wir haben nur ein Auto." "Lass das meine Sorge sein", entgegnete Natascha und stand auf.
Sie ging in die Mitte der Turnhalle, wo zwei zusammengestellte Böcke eine Rednerbühne ersetzen sollten, erklomm sie und sagte mit lauter Stimme, sodass alle sie hören konnten: "Hört mal alle her!", sofort erstarben die gemurmelten Gespräche in der Halle. "Wie ich grade erfahren, habe nähert sich in diesem Moment eine Panzerkolonne der Stadt." Sofort brach ein Tumult los. Wütende und verängstigte Stimmen brüllten durcheinander. Natascha versuchte bestimmt eine Minute lang sich wieder Gehör zu verschaffen. Dann wurde es ihr zu dumm. Sie nahm die Maschinenpistole, die an ihrem Gürtel hing, und feuerte eine kurze Salve in die Decke. Schlagartig wurde es wieder ruhig. Sie ließ kurz den Blick schweifen um zu prüfen, ob auch wirklich alle ihr zuhörten. Erst dann sprach sie weiter, wobei sie sich den feinen Staub aus den pechschwarzen Haaren strich, der bei ihren Schüssen von der Decke herabgerieselt war.
"Also gut! Die Regierung hat angekündigt, ein Exempel an allen in der Stadt statuieren zu wollen. Wer von euch also fliehen will, der sollte also Russland ganz verlassen." Keiner regte sich. Ihnen allen Stand die Angst ins Gesicht geschrieben.
Nach dem Fliegerangriff hatten viele Leute ihr Hab und Gut zusammengepackt, oder zumindest das, was sie davon tragen konnten, und hatten Usman den Rücken zugekehrt. Niemand wusste, was aus ihnen werden oder was mit ihnen passieren würde, sollten sie aufgegriffen werden.
"Wer hier bleiben will, kann helfen die Stadt zu retten. Wir haben vor, die Panzer bei der Geisterstadt Dryazgi abzufangen. Aber um rechtzeitig dort zu sein, benötigen wir Fahrzeuge und außerdem Panzerfäuste und Freiwillige um die Panzer zerstören zu können. Bringt all das in einer halben Stunde zum nördlichen Stadtrand. Dann geht es dort los. Wer mitkommen will, soll dort warten."

29 Minuten später stand Natascha zusammen mit Aleksander, den fünf aus Lipetsk und und 18 Freiwilligen aus Usman auf der Straße, die in Richtung Norden aus Usman führte. Obwohl sie nur 25 waren, hatte Natascha ein gutes Gefühl bekommen, was ihre Mission anging. Zu ihrer eigenen Überraschung hatten sie fast für jeden eine Panzerfaust bekommen und gut 40 Schuss Munition. Dazu hatte jeder Handfeuerwaffen und Patronen in ausreichender Stückzahl bei sich. Sie quetschten sich in 4 alte Kombis und fuhren los. Juri war nicht dabei. Er wollte in Usman bleiben und Inventarlisten ihrer Waffen und Vorräte aufstellen, damit sie eine besser Übersicht hatten und außerdem dabei helfen die Stadt besser zu verbarrikadieren.
Natascha, die eines der Autos fuhr, sah die Stadt im Rückspiegel schrumpfen und ein mulmiges Gefühl beschlich sie.
Die Straße war frei von Autos - niemand wollte sich Usman nähern aus Angst vor den Rebellen oder davor für einen von ihnen gehalten zu werden. Darum kamen sie schnell bis nach Dryazgi. Viktor hatte nicht übertrieben: Das Dorf war eine Ruine. Die Autos parkten sie in einer verfallenen Scheune, etwa 200 Meter von der Straße entfernt. Die Häuser waren allesamt verrammelt, doch war das Holz, mit dem man Türen und Fenster zugenagelt hatte, war so morsch, dass sie keine Probleme hatten ins Innere der Gebäude zu gelangen.
Drinnen war es feucht und stickig. Sie verteilten sich entlang der Straße. Der Plan war, das erste und das letzte Fahrzeug gleichzeitig in die Luft zu jagen, sodass die mittleren fürs Erste nicht von der Stelle kämen. Natascha hoffte, dass sie nicht lange auf dem schimmligen Boden hocken und warten müssten und sie wurde nicht enttäuscht. Nur etwa eine Dreiviertelstunde dauerte es, bis sie das tiefe Brummen gewaltiger Motoren und das rasseln und Ketten hören konnten. Nastascha, die zusammen mit Viktor und dem jungen Mann, der die Karte gehabt hatte, in einem Zimmer saß, schultere ihren RPG-7 und nahm Aufstellung am Fenster. Die ersten fünf Fahrzeuge waren Panzer, dann die beiden Truppentransporter, die Nachhut bildete ein sechster Panzer. Genau wie Viktor es gesagt hatte. Irgenwie kam ihr das plötzlich seltsam vor.
Sie drehte sich um und starrte die beiden Männern an, die mit ihr in dem schummrigen Raum hockten.
"Viktor?", fragte sie und bemühte sich nicht misstrauisch zu klingen. "Woher wusstest du eigentlich so genau, dass es 6 Panzer und zwei Truppentransporter sein würden?" Viktor runzelte die Stirn. "Was interessiert dich das ausgerechnet jetzt?" "Antworte einfach!" "Die Panzer haben sie auf dem Zentralplatz auffahren lassen, um Eindruck zu schinden. Die beiden Transporter sind von Jelzin persönlich", zischte er. Draußen passierte der erste Panzer gerade die Einfahrt in die Geisterstadt. "Und woher wusstest du von denen?", hakte Natascha nach und fuhr mit der Hand zu ihrer Maschinenpistole. "Nicht ich! Daniil hier!", raunte er und nickte zu dem jungen Mann rüber, der plötzlich erbleichte.
Doch ehe Natascha auch nur den Mund aufmachen konnte hörten sie eine Explosion und das Bersten von Holz und Beton. Natascha wandte sich um. Eines der Gebäude in denen ihre Kameraden sich versteckt gehalten hatten war von einem der Panzer getroffen worden. Die Soldaten wussten, dass sie hier waren. Als sie wieder zu Viktor und Daniil blickte, sah Natascha, dass Letzerer aufgesprungen war und die Treppe hinuntersprinten wollte. Viktor schien vollkommen verwirrt. "Verräterisches Schwein!", brüllte Natascha und schoss mit ihrer Pistole auf Daniils Beine. Mehrere Kugeln trafen seine Waden und er fiel sich windend zu Boden.
Jetzt schien es auch Viktor zu dämmern und er stieß einige wilde Flüche aus. Draußen waren erneut mehrere Explosionen zu hören. Natascha nahm wieder die Panzerbüchse und zielte auf die Kolonne. Der vorderste Panzer war bereits ein zwei Stellen durchschlagen und Rauch quoll aus ihm hervor. Der letzte war zu weit Weg um ihn ernstlich zu treffen, also nahm sie einen der mittleren Panzer aufs Korn.
Das raketengetriebene Geschoss ihres RPG-7 traf den dritten an der Wanne in der Nähe der Kette und sprengte diese. Natascha musste husten als sie die Abgase des Geschosses einatmete. Auch Viktor schoss seine Rakete ab. Der Rauch wurde so dicht, dass Natascha kaum noch etwas erkennen konnte. Sie tastete nach dem zweiten Projektil, fand es und ging wieder hustend in Stellung. "Scheiße!", fluchte sie, als sie sah wie ein Gebäude an der gegenüberliegenden Straßenseite in sich zusammenfiel. Aus einem der Transportern sprangen jetzt uniformierte Männer, Gewehre ihm Anschlag. Natascha schoss auf den anderen Transporter und sah zufrieden, wie sich das Projektil durch die Seitenwand des Fahrzeugs bohrte. Zwei Panzer waren mittlerweile zerstört, ein dritter nicht fahrtüchtig. Vom zuvor hintersten Panzer fehlte jede Spur, doch zwei Panzerfahrzeuge beschossen die Häuser, in denen die Rebellen hockten. Und einer von ihnen richtete seine Kanone nun direkt auf Natascha. Sie wich an die Wand zurück. "Viktor", brüllte sie. "Raus hier!" Sie rannte die Treppe hinunter - stürzte halb; immer noch tränten ihre Augen von den Abgasen der Panzerfäuste. Sie hörte wie Viktor schoss, dann hastige Schritte und im nächsten Moment wurde sie fast taub vom Lärm der Explosion, als der Panzer seine Granate in das obere Stockwerk des Hauses schoss.

Sie schien für einen Moment in Ohnmacht gefallen zu sein, denn als sie die Augen wieder öffnete sah sie Viktor über ihr. Die linke Hälfte seines Gesichts war verbrannt und er bot einen grausigen Anblick mit zittrigen Händen umklammerte er Daniils Körper. Alles hörte sich an, als hätte Natascha Watte in den Ohren. Viktor schrie etwas, dass sie nicht verstehen konnte. Schwankend stand sie auf und als sie sich ans Ohr fasste spürte sie Blut. Ihre Handrücken waren mit schmerzhaften Brandblasen übersät.
Sie schüttelte die Benommenheit ab so gut es ging und wagte einen Schritt nach draußen. Alle Häuser entlang der Straße waren zerstört, die meisten brannten. Nur noch ein Panzer schien voll einsatzfähig zu sein. Er rollte langsam die Straße entlang und zerstörte mit einem Schuss das letzte Haus, das noch stand. Hinter ihm liefen Männer her, die die Kunstuniform von Jelzins Söldnern trugen. Natascha verbarg sich schnell wieder im Inneren des Hauses.
Die Luft hier drinnen brannte scharf in ihrer Kehle und es war unerträglich heiß, da die obere Etage brannte, aber immer noch besser, als auf offener Straße erschossen zu werden. Sie hoffte inständig, dass sie und Viktor, der schmerzerfüllt wimmerte, nicht die einzigen Überlebenden waren. Und was war mit Aleksander? Lebte er noch? Sie ertappte sich dabei, wie ein Stoßgebet zu Gott schickte, jenem Gott über den sie immer gelacht hatte, für dessen Anhänger sie stets nur Häme übrig gehabt hatte. Dann besann sie sich eines Besseren und kroch wieder zur Tür. Offenbar kehrte ihr Gehör langsam zurück. Denn sie hörte einen Mann bellen: "Alles ruhig! Aber seht in den Häusern nach!"
Natascha zog ihre Maschinenpistole und versteckte sich in einer dunkeln Ecke des Raumes. Sie atmete mehrmals ein und aus um sich zu beruhigen, doch es half nichts. Selbst wenn sie den Mann tötete waren da immer noch mindestens ein Dutzend andere auf der Straße.
Die Tür wurde aufgestoßen. Herein sprangen zwei Männer mit hochmodernen Sturmgewehren, die eigenständig Ziele erkennen und dem Schützen beim Zielen helfen konnten. Der Blick der beiden Männer fiel, als sie in das Zimmer sprangen, zuerst auf Viktor, der noch immer vor Schmerzen zitterte. Einen Moment lang besahen die sich ihn und genau diesen Moment nutze Natascha. Ohne auch nur aufzuspringen schoss sie aus ihrer Deckung heraus den beiden Soldaten eine Kugelsalve in den Rücken. Sie fielen tot übereinander.
Erst jetzt ging Natascha zu Viktor hinüber. Er atmete noch immer schwer, schien sich aber wieder zu beruhigen. Als sie sich über ihn beugte, wandte er ihr sein verbranntes Gesicht zu. "Alles in Ordnung?" Mehr fiel ihr nicht ein. Viktor nickte stumm und betastete sich sein Gesicht. Als er die verbrannten Stellen berührte, zuckte er heftig zusammen. "Du bleibst hier", bestimmte Natascha. Wieder nickte Viktor ohne ein Wort zu sagen.
Natascha drehte sich um und nahm einen der Männer das Sturmgewehr ab. "Fühlt sich gut an", murmelte sie zufrieden, als sie die Waffe in der Hand wog. Vorsichtig trat sie erneut auf die Straße. Der Panzer war in der Zwischenzeit weiter gefahren, sodass sie hinter ihm stand. Schnell huschte ihr Blick über die Reihen der Häuser. Jelzins Söldner waren nicht zu sehen, doch ein paar Soldaten knieten über bei einem der Panzer deren Ketten gesprengt waren und versuchten offenbar das Gefährt wieder fahrtüchtig zu machen.
Ohne lange zu zögern eröffnete Natascha das Feuer auf die Männer. Sie brauchte kaum zu zielen. Die Waffe zuckte in ihren Händen wie ein lebendiges Wesen und tötete zwei Männer ehe sich die anderen auch nur umwenden konnten. Ein dritter fiel, als er versuchte hinter dem Panzerwrack in Deckung zu springen. Seine Kameraden jedoch eröffneten das Feuer. Schnell hechtete sie außer Reichweite, zurück in das verfallene Haus.
Auch aus einen anderen Gebäude drang jetzt das Rattern von Gewehren. Kugeln prallten neben Natascha in die Häuserwand, eine durchschlug den Beton. Sie hielt das erbeutete Gewehr aus dem Türrahmen und feuerte blind eine Salve. Mit einem leisen Sirren richtete die Waffe sich von alleine aus und jagte seine tödlichen Geschosse treffsicher einen der Soldaten in den Leib.
Mit einem Lächeln zog sich Natascha weiter zurück, welches jedoch erstarb, als ihr klar wurde, dass auch die anderen von Jelzins Söldnern solche Gewehre hatten. Sie hoffte inständig mit dem Schuss in das Transportfahrzeug viele von ihnen getötet zu haben. Draußen war es wieder ruhig - zu ruhig. Sie lugte durch einen Spalt in der Bretterverschalung des Fensters und sah, wie sich die Kanone des Panzers in ihre Richtung drehte. Sie stieß einen wüsten Flucht aus und rannte auf die Straße. Dabei Schoss sie erneut eine Salve in Richtung der Soldaten, die hinter dem Panzer in Deckung gegangen waren, doch traf nur Metall. Offenbar funktionierte die Zielvorrichtung der Waffe nicht aus dem Lauf heraus. Die Regierungstruppen schossen nun ihrerseits auf Natascha, doch konnte sie sich ins gegenüberliegende Haus retten. Das gab ihr die Zeit einen tiefen Atemzug zu nehmen, sicher war sie hier drin jedoch nicht, denn das Panzerrohr drehte sich nun zu ihrer neuen Position hin. Ohne groß zu überlegen trat sie die Bretter vor einem der Fenster ein und sprang hindurch. Sie landete direkt vor dem Panzer. Er konnte sie dort, wo sie jetzt war, nicht treffen, doch rollte das schwere schwere Gefährt vorwärts und hätte sie zerquetscht, hätte sie nicht die Wanne erklommen. Da sie den Panzer jetzt zwischen sich und den Regierungstruppen hatte, war sie vor deren Kugeln einigermaßen sicher. Doch eröffnete jetzt aus irgendeinem Haus jemand das Feuer auf sie. Schnell sprang sie von dem Panzer und rollte sich weg. Keinen Moment zu früh. Nur wenige Augenblicke später trafen zwei Projektile den Panzer. Das erste prallte am Turm ab, ohne sichtbaren Schaden zu hinterlassen. Das zweite jedoch schien eine Schwachstelle getroffen zu haben, denn es durchschlug die Seite des Panzers und ließ eine Stichflamme daraus hervorlodern. Sie sah sich nach dem Schützen um und erblickte Viktor vor dem zerstörten Haus stehend. Daniils Panzerfaust in Händen.
Und plötzlich war es wieder still. Probehalber wollte sie einen Schuss abgeben und merkte verärgert, dass dem Hightech-Gewehr die Munition ausgegangen war. Unwillig schleuderte sie es zu Boden und zog ihre Maschinenpistole. Als sie jedoch vorsichtig die Straße entlangschlich wurde nicht auf sie geschossen. Dafür kam einer ihrer Kameraden mit angesengten Haaren und verdeckter Kleidung aus der Ruine eines Hauses verhorgekrochen. Sonst bewegte sich nichts
Natascha sah sich keuchend um. Sonst niemand? Wo war Aleksander?. Als hätte er ihre Gedanken gelesen räusperte sich der Mann mit den dreckigen Klamotten und sagte vorsichtig: "Natascha... Ge- Genossin?" "Was?", herrschte sie ihn an. "Falls du nach Überlebenden suchen willst... es ist sinnlos! Wir waren zu fünft in diesem Haus und... es waren zwei dieser Söldner... haben Genossen Iwan und Genossen Aleksander erschossen ehe wir sie erledigen konnten. Und dann... hat einer der Panzer... sie sind alle tot. Die anderen sind schon vorher... " Er brach ab; ließ das Offensichtliche unausgesprochen.
Natascha spürte wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie ging in die Knie und verbarg ihr Gesicht in den Händen. "Erst Gregor und jetzt Aleksander", dachte sie "Er hatte diesen Krieg nie gewollt. Ich hätte auf ihn hören sollen. Mein Aleksander..." Warum musste ihr junges Glück so rasch zerstört werden? Und dann all die anderen die gefallen waren und die unschuldigen Bewohner und Usman. Warum hatte sie sie da mit reingezogen? Natascha fühlte sich schuldig und sie merkte sie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und als sie hochsah, blickte sie in Viktors entstelltes Gesicht. "21 gute Männer und Frauen verloren, aber die Stadt gerettet", sagte er tonlos. Das Sprechen bereitete ihm offensichtlich Schwierigkeiten.
"Das will ich nicht hören!", fauchte Natascha. Viktor seufzte. "Wenn man sich einmal entschieden hat einen Weg zu beschreiten auf dem es kein Zurück gibt, dann hilft es nicht stehen zu bleiben und zu hoffen, dass die Dinge von alleine besser werden. Dann muss man einfach weiter gehen egal wie schwer einem jeder Schritt fällt.
Es gibt kein zurück mehr, Natascha. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir beide und alle die uns geholfen haben, ob in Usman oder Lipetsk, nur noch entweder den Staat, der uns unterdrückt, zerstören können oder selbst von diesem Staat zerstört werden müssen."
Natascha wollte darauf etwas entgegnen, doch ihr fiel nichts Passendes ein. Das Schlimmste an Viktors Worten war, dass sie stimmten. Obwohl Ossenbach angekündigt hatte ein Exempel zu statuieren würde er wahrscheinlich ein paar Usmaner leben lassen. Doch für sie und alle, die zu den Waffen gegriffen hatten, gab es kein Umkehren mehr - das hatte es im Grunde noch nie gegeben.
Sie musste an die alten Zeiten denken, als ihre Mutter noch gelebt hatte und die Repression längst nicht so schlimm gewesen war. Da fiel ihr, als sie sich erinnerte wie ihre Mutter sie immer mit in die Kirche geschleppt hatte, ein Zitat aus der Bibel ein. "Wer zum Schwert greift, wird auch durch das Schwert umkommen", sagte sie. "Wenn das also unser Schicksal ist..." Viktor lächelte, jedenfalls tat der gesunde Teil seines Gesichtes das, als plötzlich hinter ihnen ein Husten zu hören war.
Natascha sprang auf und wirbelte herum. Es war Daniil. Er lebte noch. Ihre ganze Trauer und all die Wut schien sich in diesem Moment auf den jungen Mann zu entladen, der sich da am Boden wand. Sie zog ihre Pistole. "Warum hast du das getan? Warum hast du Hurensohn uns verraten!?!", polterte sie und richtete die Waffe auf seine Brust.
"Bitte...", stöhnte Daniil. "Sie haben... meine Eltern sie... sie hatten meine... sie hätten sie erschossen... sie haben mich erpresst... und -" er jaulte auf und zuckte heftig zusammen. "Bitte... erschieß mich! Die Schmerzen... erschieß mich", flehte er. "Warum sollte ich eine Kugel verschwenden um dir das Sterben zu erleichtern?", fragte Natascha und ihre Stimme war kalt wie Eis. "Weil... das hier... nur ein A-Ablenkungs ... manöver war. Sie greifen in diesem Moment Usman von... Süden her an." "Sie?" "Die Armee... natürlich auf Geheiß... auf Geheiß von... Ossenbach."
Ein lauter Knall war zu hören, als Natascha abdrückte. Sie war kreidebleich geworden. "Was nun?", wollte der Mann in der dreckigen Kleidung wissen. Auch er war aschfahl. "Wir können jetzt nur eins tun: ", sagte Natscha sehr langsam. "Den nächsten Schritt auf unserem Weg. Es geht zurück nach Usman."




Kommentare
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 31. Oktober 2012 23:47

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
14. Szene


Fünf Minuten später saßen sie in einem der Autos, mit denen sie nach Dryazgi gefahren waren. Sie waren allesamt abgekämpft und erschöpft, doch sie wussten, dass sie so schnell wie möglich nach Usman zurückkehren mussten. Natascha und Viktor saßen auf dem Rücksitz. Viktor hatte die Panzerfaust mit dem letzten Projektil über die Knie gelegt. Der überlebende Rebell – Nikolai – fuhr den Wagen. In atemberaubendem Tempo jagten sie über die staubige Piste zurück nach Usman. Natscha sah durch die Heckscheibe zu den zerstörten Ruinen hinüber. „Irgendwann werden wir ihnen ein Denkmal setzen!“, schwor sie den beiden anderen.
Sie waren noch nicht lange gefahren, als sie in etwas weniger als einem Kilometer Entfernung auf der geraden Straßen den letzten verbliebenen Panzer sahen. „Verdammte Scheiße!“, fluchte Natascha. „Ich gab ganz vergessen, dass ja ein Panzer noch ganz ist.“ „Ich aber nicht“, gab Viktor trocken zurück und tätschelte die Panzerfaust auf seinem Schoß. „Nikolai! Tritt aufs Gas, bevor der uns bemerkt!“, befahl er und der junge Mann drückte das Gaspedal noch weiter durch. Der Motor dröhnte besorgniserregend, als die Drehzahl sich der 5000 näherte. „Du hast nur einen Schuss, verdammt! Das schaffst du nicht!“, polterte Natascha, während der Abstand zwischen ihnen und dem Panzer schmolz. „Wieso? Reicht doch!“, gab Viktor grimmig zurück. Natascha lehnte sich aus dem Fenster uns sah: Menschen.
Da, etwa 500 Meter vor dem Panzer, stand eine ganze Traube Menschen und versuchte nach rechts und links zu entkommen, während das Kriegsfahrzeug Salven in die Menge feuerte. Die Menschen aus Usman, wurde Natscha klar. „Verflucht! Viktor! Sieh!“, stieß sie aus, doch auch Viktor hatte die Menschen bereits gesehen. Er saß im Fensterrahmen und hatte die Panzerfaust im Anschlag. Noch 100 Meter. Natascha sah zwischen ihm und Nikolai hin und her. Viktor schoss, Nikolai riss das Lenkrad herum um einen, ansonsten unvermeidlichen Zusammenprall mit dem Panzer zu verhindern und Natascha krallte sich im Sitz vor ihr fest, als die Welt sich plötzlich zu drehen begann.
Der Wagen überschlug sich mehrmals, ehe er schließlich 15 Meter neben der Straße zum Liegen kam. Natascha atmete schwer, doch sie war mehr oder weniger unverletzt und ein Blick in Viktors verbranntes Gesicht sagte ihr, dass auch ihm beim dem Crash nichts allzu Schlimmes widerfahren war. Doch Nikolai rührte sich nicht mehr und noch immer waren die Schüsse der MG des Panzers zu hören. „Oh, nein“, flüsterte Natascha, doch sie kletterte auf dem Wagen. Die Kette des Panzers war gesprengt, doch die Außenhaut des Gefährts war offenbar nicht durchschlagen worden.
Ob die Mannschaft nicht bemerkt hatte, dass man grade ihre Kette gesprengt hatte, oder ob sie es schlichtweg nicht interessierte – Natscha wusste es nicht, doch der Panzer feuerte einfach weiter in die Menge, die sich mittlerweile weit verteilt hatte. Von dem Wagen, der auf der Seite lag, und seinen Insassen nahmen sie jedenfalls keine Notiz, vielleicht hielten sie sie auch für tot. „Wir sind also zu spät“, stellte Viktor düster fest als er sich die Flüchtenden besah. „Sie haben die Stadt bereits überfallen.“ „Wie werden wir das Teil jetzt los?“, fragte Natscha und nickte zu dem Panzer hinüber. „Gar nicht. Er kann nicht mehr fahren und hat uns noch nicht bemerkt. Wir sollten das tun war die anderen auch tun.“ Mit diesen Worten sprang er aus dem Wagen und spurtete los in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Aber...“, widersprach Natascha. Viktor blickte zu ihr zurück und sagte jetzt weicher: „Komm! Es hat keinen Sinn.“ Widerwillig stieg auch Natascha aus dem Wagen und folgte Viktor.
Die ersten 800, 900 Meter liefen sie, dann verfielen sie in einen schnellen Schritt. Etwa einen Steinwurf weit links von der Straße gingen sie zurück zu der Ruinenstadt von Dryazgi. Keine Soldaten schienen ihnen zu folgen. Überall um sie herum waren andere Menschen auf der Flucht, doch sie achteten kaum auf sie sondern nur darauf weiterzukommen. Die zerstörte Geisterstadt, in der es noch immer qualmte schien wie ein Magnet auf die Flüchtlinge zu wirken. Schon über hundert Menschen waren hier und es wurden immer mehr. Einige erkannten Natascha und wütende Stimmen wurden laut. Etwas matschiges traf sie im Gesicht, doch sie achtete nicht weiter darauf. Ohnehin nahm sie in diesem Moment ihre Umwelt kaum war. Sie war wie in Trance und hatte ein Gefühl als könnte sie mit jedem Schritt in ein bodenloses Loch fallen.
Sie bemerkte auch nicht, wo Viktor sie hinführte, bis sie sich plötzlich auf einem Stuhl wiederfand. Sie waren in der Scheune, in der noch immer drei ihrer Autos standen. Juri war da. Er war bleich wie ein Neumond und wirkte vollkommen durcheinander, aber er schien unverletzt. Ein paar andere waren da. Einige kannte Natascha mit Namen, andere nur vom Sehen. Die alle wirkten grimmig, doch keiner machte Anstalten die Hand gegen sie zu erheben. „Das ist ja eine ganz schöne Scheiße, in die wir uns da reingeritten haben“, sagte Juri uns ließ sich auf der Motorhaube eines Autos nieder. Natascha sah zum Scheunentor. „Ich würde dir nicht empfehlen, da jetzt rauszugehen“, sagte eine Frau, deren Namen Natscha nicht kannte. „Das könnte schlecht für dich enden.“
„Sie kamen etwa eine Stunde nachdem ihr weg wart“, begann Juri zu erzählen. „Es waren viele und sie hatten Panzer. Die meisten sind in Panik geraten und geflohen, ein paar haben versucht sie aufzuhalten – immerhin konnten sie uns einen kleinen Vorsprung verschaffen.“
Juri redete weiter, doch Natascha hörte ihn nicht mehr. Sie dachte an das, was Viktor zu ihr gesagt hatte, darüber, dass man einfach weitergehen müsse und an etwas, dass ihr Großvater immer gesagt hatte: Feuer bekämpft man mit Feuer. Und etwas in Natascha schien zu sterben und etwas anderem, größerem Platz zu machen.
„... und seitdem sind wir hier. Wir sind tot“, schloss Juri seinen Bericht. „Tot?“, fragte Natascha ganz leise nach einer Weile. „Tot?!?“, schrie sie und warf de Stuhl um, auf dem sie saß. Alle zuckten zusammen, ob ihrer heftigen Reaktion. Sie nahm Juris Hand und drückte sie auf ihre Brust. „Fühlst du das?“, fragte sie Juri, der hauchzart rosa angelaufen war. „Wir sind noch nicht tot. Ich jedenfalls nicht! Mein Herz schlägt noch. Und eure auch !Also habt ihr noch immer die Möglichkeit weiterzugehen.“ „Aber alleine werden wir nicht weit kommen“, sagte Viktor ernst, doch er lächelte leicht, fast unmerklich. Er lehnte sich gegen die Wand und sah noch oben, wie jemand der angestrengt überlegen musste. „Sie haben in Usman gewonnen. Wir müssen hier weg“, meinte er wie zu sich selbst. „Aber das heißt noch lange nicht, dass sie in Russland gewonnen haben. Das hier sind nicht die einzigen Aufstände. In Moskau, in Sibirien, in Sankt-Petersburg... überall gehen die Menschen auf die Straßen. Und es wehen so viele Hammer-und-Sichel-Flaggen wie seit 1990 nicht mehr. Ossenbach hat es etwas übertrieben und die Menschen gegen sich aufgebracht. Aber nicht jeder ,der auf die Straße geht, ist Kommunist, Natascha“, sagte er und sah sie an. „Ich selbst bin keiner. Aber ich bin nach Usman gekommen, weil wir den selben Feind haben. Natascha, wir brauchen Verbündete.“
„Wen schlägst du vor?“, fragte sie. „Praktisch jeder käme in Frage.“, antwortete er. „Nun... Solange Ossenbach auf seinem Kurs beharrt: Ja... vielleicht. Auch wenn es immer die gibt, die sich lieber mit dem System arrangieren, als es zu bekämpfen. Aber was, sollte er doch Zugeständnisse machen, Viktor? Außerdem ist eine rohe, dezentrale und unorganisierte Masse als Guerillatruppe nichts wert, wenn sie nicht so groß ist, dass sie ohne Aufwand, allein durch ihre Zahl, die Staatsstrukturen lahmlegen könnte. Darüberhinaus braucht sie die notwendige revolutionäre Moral und den Durchhaltewillen. Nein, wir brauchen Gruppen, mit innerem Zusammenhalt und einer gemeinsamen Organisation.“
Jetzt war es an Viktor zu fragen, wen Natscha im Sinn hatte. „Nun“, erklärte sie. „Ossenbach ist von Allmachtsfantasien besessen. Deshalb duldet er weder Opposition noch einen Machthaber neben sich. Er will alles alleine bestimmen und die Vorstellung Entscheidungsgewalt an lokale Stellen abzugeben ist ihm ein Graus … wie ungemein dumm, wenn man in Russland ist.“ Langsam schien es Viktor und den anderen zu dämmern. „Nur ein weiterer Eindringling der an Mütterchen Russlands schierer Größe scheitern wird. Was wir brauchen, ist die Hilfe der nationalen Minderheiten. Der Karelen, der Kaukasen und der Jakuten. Es hat ihnen sicher nicht gefallen, dass Ossenbach ihnen alle ihre Privilegien gestrichen hat.“
„Also teilen wir uns?“, fragte Viktor, der Nataschas Plan zu ahnen schien. Sie nickte knapp. Dann befahl sie den Umstehenden: „Geht daraus und sucht alle Leute zusammen, die noch bereit sind etwas für Russlands Zukunft zu leisten!“
20 Minuten später hatten sich etwa 50 Leute in der Scheune versammelt. Allesamt wirkten sie abgekämpft und erschöpft, aber auch grimmig und entschlossen. Natascha lächelte. „Sehr gut!“, sagte sie. „Viele von euch glauben sicherlich, dass wir heute eine schwere Niederlage erlitten haben. Aber ich sage euch: Wir haben auch etwas gewonnen. Denn wir haben eine Keimzelle der Revolution geschaffen. Jetzt müssen wir die junge Glut nähren, damit sie zum Flächenbrand werden kann. In Usman gibt es nichts mehr für uns. Jeder muss selbst sehen wo er bleibt. Wer fliehen will, der muss sein Glück wohl oder übel in Mitteleuropa oder in der Türkei versuchen – wenn er es bis dahin schafft. Wir aber können diesem Land einen großen Dienst erweisen.
Überall lodern Brandherde des Volkszorns. Wir müssen nun Sorge tragen, dass sie sich zu einem großen Feuer verbinden, dass das politische System verzehrt und Russland von seinen Auswüchsen läutert. Wir müssen raus hier; uns über ganz Russland verteilen und doch in Kontakt bleiben. Geht aufs Land! Geht in die Städte! Schaut euch in Kneipen und in Kirchen, an Universitäten und an Schulen um! Und wo immer ihr Unzufriedenheit findet, nährt sie! Man wird euch jagen und verdammen. Und vielleicht werdet ihr stehlen, rauben und betrügen müssen um zu überleben, doch denkt immer daran: Künftige Generationen werden sich nicht deshalb an euch erinnern, sondern weil ihr für ein größeres Ziel gekämpft habt: Die Befreiung Russlands von den Ketten des Staatsmonopolistischen Kapitalismus und der Diktatur Ossenbachs.“
Dieser Ansprache folgte allenthalben Applaus und begeisterte Zurufe. Erst jetzt merkte Natascha, wie sich ihre Stimme gegen Ende immer weiter hochgeschraubt hatte. Ruhiger fuhr sie fort: „Wir müssen die Sozialisten aktivieren. Wir müssen die Nationalisten aktivieren. Auch die Christen und die Juden und alle die mehr Gründe, als nur ihr persönliches Wohlergehen haben, um Ossenbach zu hassen. Wir müssen jetzt einen genauen Plan ausarbeiten, wie wir vorgehen. Wir brauchen Leute im Kaukasus, in Karelien, der Tartarei, in Kaliningrad und Sibirien. Wir brauchen Leute in Moskau, Nowosibirsk und in Sankt Petersburg. Zusammen – solidarisch – können wir die Diktatur stürzen.“ Natascha lächelte bitter und sah in die entschlossenen Gesichter ihrer Mitstreiter. Schließlich sagte sie: „Mögen sie vor unserer Revolution zittern! Sie haben uns alles genommen. Doch jetzt haben wir nichts mehr zu verlieren als unsere Ketten, aber wir haben eine Welt zu gewinnen.“




Kommentare
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 25. November 2012 22:24

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
15. Szene


Der kleine rote Rahmen an dem Kalender, der auf dem 19. Mai stand, sagte Jacopo, dass er jetzt schon seit genau einem Monat in Trient war. In Rom hatte er es nicht geschafft Fuß zu fassen, was ihn noch immer wurmte. Die Großstadt war viel multikultureller geprägt als das vergleichsweise beschauliche Bari und weniger empfänglich für sein Programm.
Also hatte er sich entschlossen, nach Norditalien zu gehen, wo er nach dem Wegfall der Lega Nord Potenzial für seine eigene Partei, die Fronte Nazionalista, sah. Warum seine Entscheidung ausgerechnet auf Trentino gefallen war, hatte er sich jedoch in den vergangenen Wochen bereits mehr als einmal gefragt. "Vermutlich, ist es so eine Art Selbstbestrafung", hatte er einmal an Vittore gemeint. Der junge Adelige aus dem Geschlecht der Savoyen hatte sich entschieden mit ihm hier her zu reisen. Und auch wenn Jacopo es niemals zugegeben hätte, so war er doch dankbar für dessen Unterstützung.
Vittore war jünger als er selbst und konnte besser mit Leuten umgehen, die der Politik der FN eigentlich eigentlich eher ablehnend gegenüberstanden. Solche Personen - die selbstverständlich für den Verfall Italiens verantwortlich waren - hätte Jacopo am liebsten zum Teufel geschickt. Wie konnte man eigentlich Sozialdemokraten wählen und dann darüber schimpfen, wenn das Land vor die Hunde geht? Jacopo verstand es nicht und würde es auch nie verstehen. Aber Sozialdemokraten waren ja nicht sein Problem, sondern Montis geistige Zöglinge, die noch immer mit ihren Notstandsgesetzen ihre Profitgier zu Lasten des italienischen Volkes befriedigten.
Doch hier oben hatte er noch ein ganz anderes Problem, das es so nirgendswo sonst in Italien gab und das der Grund war, warum er seine Entscheidung, als nächstes eine Ortsgruppe in Trient aufbauen zu wollen, als "Selbstbestrafung" bezeichnete. Andererseits hoffte er, dass gerade dieses Problem ein Sprungbrett sein könnte. In Rom hatte er keinen Fuß fassen können, auf dem Pflaster, das rutschig war vom kulturellen Einheitsbrei. Hier jedoch prallten noch harte Kulturgrenzen aufeinander. So hart wie die Steine der Harderburg, die seit alters her eine Grenzmark war. Eine Grenzmark, zwischen den edlen Erben Ciceros und Da Vincis und den tumben Barbaren aus dem Norden. Nur wenige Kilometer nördlich von Trient siedelte ein Menschenschlag, der Jacopa fast genauso sehr zu wider war die Araber und die anderen Muselmanen: Die Südtiroler. Es war unglaublich. Seit über 110 Jahren waren diese Menschen nun schon Italiener, doch sie weigerten sich immer noch beharrlich die Vorzüge der italienischen Kultur anzunehmen.
Der Gedanke kam Jacopa wieder als er beim Kaffee saß. Bei ihm am Tisch saßen noch drei junge Männer, ebenfalls über ihrem Kaffee. Sie waren mitgereiste Mitglieder der FN; aus der Bevölkerung Trients hatte er noch keine Mitglieder für seine Partei gewinnen können - noch nicht.
"Wisst ihr, was mich aufregt?", sagte er aus heiterem Himmel und zum wiederholtem Male. "Die Tiroler?", fragte einer der Männer, Tomaso. Selbst Jacopas Kameraden hing das Thema mittlerweile zum Halse heraus, so oft schlug ihr Parteiführer es an. "Ja genau; diese verdammten Tiroler dort oben", stimmte er zu und machte eine Geste in die Richtung in der er den Norden vermutete. "Ich meine wenn sie ihrer Kultur, wie sie es nennen, frönen wollen, dann können sie das ja gerne tun... in der Schweiz oder in Österreich. Aber solange sie in Alto Adige bleiben wollen, in Italien also, sollen sie gefälligst auch Italienisch sprechen." "Ich hab gehört sie wollen nochmal Antrag auf ein Referendum stellen", ließ ein anderer der Kameraden, Giulio, wie beiläufig in seinem breiten friaulischem Dialekt fallen, der ihn als Triester auswies. "Schon wieder?", fragte Jacopo entgeistert. "Der letzte ist doch erst zwei Jahre her. Und woher weißt du das überhaupt?" "Ich war vor zwei Tagen in Brixen, da hab ich mit einem gesprochen..."
Jacopos Gesicht wurde zornesrot. Einen Moment lang konnte er sich nicht entscheiden, oder er lieber eine neue Schimpftirade über die Südtiroler loslassen oder dem jungen Mann eine Gardinenpredigt halten sollte, weil er sich unerlaubterweiser in Brixen rumgetrieben hatte. Doch im nächsten Moment wurden seine Züge wieder entspannter, als er sich daran erinnerte, was das letzte Mal passiert war, als die Südtiroler einen Antrag für ein Unabhängigkeitsreferendum gestellt hatten.
Damals vor zwei Jahren, war eine Protestwelle über Italien geschwappt. Die Regierung hatte den Antrag natürlich abgelehnt, auch wenn er aus wirtschaftlichen als aus nationalen Überlegungen aus - das war Jacopo klar. Dennoch hatte er einige Anti-Deutsche Ressentiments hervorgerufen.
Jacopo rieb sich die Hände. "Oh, das ist gut", sagte er. "Daran können wir anknüpfen." Wie um seine gute Laune noch zu steigern bog nur etwa zwei Minuten später Vittore in das Sträßchen ein, in dem Jacopo saß. Er erblickte ihn im Straßencafé und ging zu ihm herüber, wobei er eine Augenbraue hochzog. "Na ob das die richtige Zeit für Kaffee ist?", fragte er an niemand bestimmten gewandt. Er trug, wie eigentlich immer, einen schwarzen Anzug und daran eine Anstecknadel, die das Wappen von Savoyen trug. "Wieso denn nicht?", entgegnete Jacopo, ein wenig schroff und zog die Brauen zusammen.
"Wie auch immer", meinte Vittore. "Ich habe jedenfalls aktuelle Zahlen." Mit diesen Worten zog er seinen Tablet-PC aus der Innentasche seines Anzugs hervor und breitet ihn auf dem Tisch aus. "Wie es aussieht haben wir in Bari ein wenig verloren seit wir weg sind. Ein paar von den Jungs haben eine Umfrage gemacht und bei der kamen wir nur noch auf 13%. Allerdings haben wir in Italien insgesamt gesehen leicht gewonnen... Wir sind auf einem guten Weg", stellte Vittore fest, wobei er ihnen eine Karte mit Umfragewerten aus ganz Italien zeigte. Einer seiner ehemaligen Schulkameraden leitete ein großes Callcenter und Vittore konnte bei ihm für relativ kleines Geld Telefonumfragen in Auftrag geben.
"Das sieht gut aus! Da, in Lucca, haben wir schon 9%", sagte Tomaso über den Tisch gebeugt. Vittore lächelte, doch Jacopo wirkte reserviert. Aus irgendwelchen Gründen fiel seine Laune gerade wieder. "Hast du gehört? In Alto Adige wollen sie wieder einen Antrag auf Autonomie stellen." "Ja habe ich, ich war die Tage in Bozen", antwortet Vittore leichthin. "Warum halten sich hier alle andauernd in Alto Adige auf, ohne mir etwas zu sagen?", polterte Jacopo. Vittore ging nicht darauf ein. "Jedenfalls", sagte Jacopo schließlich. "könne wir das nutzen. Wir müssen das nutzen, würde ich sogar sagen." "Was schwebt dir da vor?" "Eine Kundgebung. Ein paar Gesprächsabende, vielleicht eine Flugblattkampagne, Herr im Himmel! Irgend etwas halt, das den Leuten zeigt auf welcher Seite wir sind." "Ich fürchte, dass du damit weniger Wähler lockst als mit dem üblichen Programm", meinte Vittore. "Das ist Teil des üblichen Programms. Italiener zuerst, schon vergessen?"
Dann besprachen sie, wie sie den neuerlichen Vorstoß der südtiroler Separatisten für sich nutzen könnten. Jacopo war es zufrieden, er war der festen Überzeugung, dass die FN so den Entscheidenden Durchbruch in Norditalien erreichen werde. Noch konnte er nicht ahnen, dass ihm eine andere Fügung bald einen eindeutig größeren Zustrom an Wählern bescheren würde.




Kommentare
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~

Benutzeravatar
Guerillonist
Tribunus Laticlavius
Tribunus Laticlavius
Beiträge: 6189
Registriert: 16. April 2011 17:09
Wohnort: München
:
AAR-Schreiber Teilnahme an einem Contest Kleinspender

Re: Europa Futura

Beitragvon Guerillonist » 7. Dezember 2012 22:08

2. Akt - Bellum omnium contra omnes
16. Szene


Die Autofähre aus Liverpool legte in Ramsey, auf der Ilse of Man an. Die Wagen fuhren in einer lange Reihe, von Einweisern dirigiert, wie Ameisen die Hafenstraße entlang und verteilten sich in der Stadt. Unter ihnen war auch ein mattbrauner Land Rover Freelander, der, da er mit Baujahr 2006 nun schon 23 Jahre auf dem Buckel hatte, schon einmal bessere Tage gesehen hatte. Tatsächlich war sein Fahrer 3 Jahre jünger als der Wagen selbst. Er trug unordentliche schwarze Haare, eine Brille mit viel zu dickem Gestell - ebenfalls in Schwarz - und einen nicht ganz perfekt sitzenden anthrazitfarbenen Anzug.
Er sah ständig besorgt zwischen der Tankanzeige und dem Navi hin und her. "In 300 Metern links abbiegen", verkündete eine kühle Frauenstimme, die jedoch nicht ganz gegen das nervöse Piepsen ankam, das signalisierte, dass der Sprit so gut wie verbraucht war.
Nur mit knapper Not schaffte es der Mann mit seinem Freelander auf die Einfahrt eines kleinen Bed&Breakfast-Hotels, am Südrand von Ramsey. Er stieg aus und öffnete den Kofferraum, wobei er einen kritischen Blick zum Himmel warf, der mit Regen drohte. Sein Gepäck bestand nur aus einem kleinen Handkoffer und einer Laptoptasche - er hatte nicht vor allzu lange zu bleiben.
Als er eintrat stand an der Rezeption eine fünfköpfige Familie, die offenbar gerade abreiste. Also ließ er sich in einen Sessel fallen und griff nach einem eReader mit den Apps verschiedener Zeitungen, der dort für wartende Gäste bereit lag. Er wählte den Daily Telegraph und überflog ein paar Artikel. Die Stimme der Rezeptionistin riss ihn aus seinen Gedanken: "Mr. Arrows? MR. ARROWS?!?". Er brauchte einen Moment um zu begreifen, dass er damit gemeint war. Rasch legte er den Reader zur Seite und begab sich an die Rezeption. "Sie sind doch Mr. Arrows, oder?", fragte die Frau dahinter argwöhnisch. "Für heute haben wir nämlich sonst keine Reservierungen." "Sicher, sicher", antwortete der Mann und legte seinen Ausweiß vor. James Arrows stand darauf.
Die Frau nickte und griff nach einem Schlüssel. "Ihr Zimmer hat die Nummer vier", sagte sie als sie ihn übergab. "Ab 22 Uhr ist die Rezeption geschlossen, dann kommen sie nicht mehr ins Hotel. Schönen Tag noch!"
Der junge Mann mit dem schlecht sitzenden Anzug erklomm eine kleine Treppe, ging einen schmalen Flur entlang, fand die Nummer 4 und schloss auf. Der Raum dahinter war recht karg eingerichtet, aber sauber. Er stelle seine Sachen auf dem Boden ab und ließ sich auf das Bett fallen. Eine kurze Weile verharrte er so, dann richtete er sich auf und griff nach der Laptoptasche. Er setzte sich im Schneidersitz hin und platzierte den Laptop auf seinen gekreuzten Beinen, während er das Gerät hochfuhr.
"Identifizieren sie sich!", verlangte plötzlich eine Computerstimme und zwei Kästchen mit den Titeln "Name" und "Passwort" tauschten auf dem Bildschirm auf. Der Mann tippte mit einer Geschwindigkeit, die die meisten Sekretäre neidisch gemacht hätte. In dem Kästchen "Passwort" erschienen elf Sternchen, in dem Kästchen Name erschien "Leonard Quincy". Er legte seinen Ringfinger auf den Anschaltknopf und hielt sein rechtes Auge vor die Webcam, ehe er die Eingabetaste betätigte. Ein kurzes Surren war zu hören und dann ertönte erneut die Computerstimme. "Anmeldung erfolgreich", verkündigte sie.
Auf dem Desktop erschien das Logo des MI5. Leonard öffnete den Chat. "Bin angekommen", tippte er und drückte auf senden. Worauf die Zeile "Leonard Q: Bin angekommen", in dunkelgrüner Schrift auf dem Bildschirm auftauchte. Einige Sekunden lang passierte nichts. Dann erschien in blassbeige darunter die Zeile: "M: Dann machen sie sich an die Arbeit." Leonard nickte und schloss den Laptop.
Im Bad tauschte er den Anzug gegen legerere Kleidung und machte sich auf Erkundungstour durch Ramsey. Sein Weg führte ihn zunächst zu dem kleinen Straßencafe, in dem damals die beiden Agenten des MI5 Margit Averlue beschattet hatten. Er setzte sich an einen der Tische. Als die Bedienung kam, bestellte er einen Cappuccino. Er ließ den Blick schweifen: Das Café war unbeachtlich. Es schien hier keine Hinweise zu geben. Wie auch? Leonard war sich unsicher, was er tun sollte. Sein erster Außeneinsatz, war schon etwas anderes als die Arbeit im Büro. "Entschuldigung?", machte er als die junge Bedienung vorbeikam und versuchte dabei seiner Stimme einen lässigen und charmanten Ton zu verleihen. Er spürte jedoch, wie ein Hauch Rosa seinen Hals hochkroch, als sie ihn unvermittelt ansah. "Ja?", fragte sie freundlich. "Ich würde sie gerne etwas fragen - möchten sie sich kurz setzen?" Die Frau hob eine Augenbraue hoch. "Äh... wie auch immer. Ramsey ist doch sicher eine sehr ruhige Stadt, oder?", wollte Leonard betont beiläufig wissen. "Ja... schon", gab die Frau misstrauisch zurück. "Aber gab es da nicht diese Morde - an dem jungen Pärchen?", bohrte er nach. "Und?" "Ich habe gehört die beiden haben zuvor hier gegessen." "Ja, und?" "Also ist ihnen an dem Tag vielleicht irgendjemand gefolgt, als sie das Café verlassen haben?" "Wer sind sie?", fragte die Frau, die immer misstrauischer wurde. "Polizei?" "Nun, äh - Nein", gab Leonard zu. "Was sollen dann die ganzen Fragen?" Leonard druckste etwas vonwegen Neugierde. Die Frau verschwand mit gerunzelter Stirn im Café. Für seine Rechnung kam der Besitzer des Cafés persönlich. Er nannte dickte, beharrte Oberarme sein Eigen und sah Leonard ziemlich grimmig an, während dieser die Münzen abzählte, wobei er ein ordentliches Trinkgeld da ließ.
Nachdem er ein paar Straßenzüge zwischen sich und das Café gebracht und sich kurz umgesehen hatte, ob auch niemand ihn beobachtete, schimpfte er laut: "Verdammter Dreck! Hach... Ich hab's verbockt!" Wobei er gegen eine Gartenmauer trat. Die Folge war, dass nun noch lauter fluchte, jetzt jedoch wegen des Schmerzes in seinem rechten Fuß. Als er aber den entsetzen Blick einer Nachbarin auffing, die ihn durch das Fenster eines Nachbarhauses hinter ihrer Rüschengardine hervor anstarrte, da fing er sich und beeilte sich weiterzukommen.
Sein Weg führte ihm zu dem Hotel, wo die beiden Agenten erschossen worden waren. Das Gelände war noch immer abgesperrt. Die Schrift auf dem Absperrband verkündete in großen Blockbuchstaben: "DO NOT CROSS". Leonard tat jedoch genau das und sah sich im Hinterhof um. Alles hier war verfallen und dreckig, jedoch gab es nichts besonderes zu sehen. Die Polizei hatte das Gebäude bereits durchsucht, dennoch betrat es. Die Vordertür war zwar abgeschlossen, doch hatte man ihm zuvor einen passenden Schlüssel anfertigen lassen.
Auch hier drinnen war es schmutzig. Die Kacheln waren zum Großteil gesprungen und die Tapete begann an manchen Stellen schon sich von den Wänden zu schälen. "Sie wurden in Zimmer 23 umgebracht", murmelte Leonard zu sich selbst. Er ging zu der Treppe hinüber, die in den ersten Stock führte. Doch als er den Fuß auf die erste Stufe setzte, spürte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Erschrocken fuhr er herum und blickte in das Gesicht eines betagten Polizisten mit einem geradezu bemerkenswerten Schnauzbart. "Betreten verboten", bellte er und wollte Leonard zur Tür schleifen. "Nein", sagte Leonard hektisch. "Sie verstehen nicht. Ich bin vom Security Service - MI5" Der Mann lachte auf. "Und das soll ich dir glauben? So ein kleines Bürschen? Hör mal zu: Du behinderst hier polizeiliche Ermittlungen. Ich war mal Soldat in Afghanistan. Weißt du was wir mit Typen wie dir gemacht hätten? Wahrscheinlich nicht! Du weißt, bestimmt nicht einmal, was Afghanistan war, he?" "Sehen sie sich doch meinen Ausweiß an", bat Leonard und kramte ihn aus der Tasche hervor. Der Mann mit dem Schnäuzer ergriff ihn, wobei er Leonard losließ, und besah sich die Papiere kritisch. "Und um ihre Frage zu beantworten", sagte Leonard, während der Polizist den Ausweiß studierte. "Afghanistan, war ein Land im Nahen Osten. Es wurde 2019 aufgelöst. Teile das Landes gingen an den Iran und Pakistan. Der Rest wurde in Kabulistan und Paschtunistan geteilt." Irgendwie beruhigte es ihn diese Fakten zu rezitieren. "Aber wie sie dort mit Agenten des MI5 umgegangen sind, weiß ich nicht, aber zum Glück sind ihnen wohl nie welche untergekommen." Bei diesen letzen Worten wirkte Leonard sogar recht selbstsicher. "Scheint zu stimmen", sagte der Polizist und gab Leonard den Ausweiß zurück. "Harris", fügte er hinzu - offenbar war das sein Name.
"Sie müssen schon verzeihen, Mr. Quincy, aber sie machen nicht gerade den Eindruck ein Agent im Auftrag der Regierung zu sein", meinte er gönnerhaft. "Wie kann ich ihnen helfen?" "Haben sie irgendwelches Beweismaterial, dass interessant für mich sein könnte" "Haben, wir - denke schon", antwortete Harris "Und was genau?" "Kommen sie erstmal mit auf die Wache, da kann es ich ihnen zeigen." Also setzen sie sich in Harris Wagen und fuhren auf die Polizeiwache von Ramsey. "Wissen sie, viele meiner Kollegen werden nicht grade begeistert sein, wenn sie hören, dass sich London in unsere Angelegenheiten mischt", meinte Harris auf der Fahrt. "Aber ich mag die Jungs aus England, als ich damals noch Soldat war..." Eine Beschreibung von Harris´Afghanistaneinsatz und seinen englischen Kameraden folgte, der Leonard keine übermäßige Aufmerksamkeit schenkte.
Auf der Polizeistation führte Harris Leonard in den Keller, wo sich die Asservatenkammer befand. Hier drin war es in Leonards Augen schockierend unordentlich. Wenn es jemals Fingerabdrücke, oder ähnliches auf einem der Beweisstücke gegeben hatte, dann waren sie jetzt mit Sicherheit weg. Harris zog einen beschrifteten Pappkarton aus einem Regal und stelle ihn zwischen Leonard und sich auf dem Boden. "Das ist alles, was wir haben", sagte er und wühlte mit beiden Händen in der Kiste, wie ein Schatzsucher in einer Truhe voll Gold. Leonard schürzte die Lippen, sagte jedoch nichts. Er hockte sich hin und mit spitzen Fingern inspizierte er die Beweisstücke: Ein blutiges Stück Tapete, Patronenhülsen, Kleidung. Nichts mit dem er etwas hätte anfangen können, doch dann... "Sind das Aufnahmen einer Überwachungskameras?", fragte Leonard und hielt eine Memorycard in die Höhe. "Ja sind es", bestätigte Harris. "Draußen vor dem Gelände vor dem Hotel war noch eine Kamera aufgestellt. Sie sollte dazu dienen, dass keiner das leerstehende Gebäude ungesehen betritt. Leider ist die Karte irgendwie beschädigt worden. Wahrscheinlich ist Wasser eingedrungen. Jedenfalls können wir sie nicht abspielen."
Ein Lächeln zog sich über Leonards Gesicht, als er das hörte. "Oh, lassen sie das mal meine Sorge sein", meinte er verschmitzt grinsend. Er richtete sich auf und legte Harris eine Hand auf die Schulter. "Sie haben mir heute sehr geholfen, Harris." Der alte Polizist wirkte leicht verdattert, doch Leonard war schon die Treppe hoch und aus der Tür verschwunden.

~ Zur gleichen Zeit in London

"Das soll wohl ein Scherz sein!?!" "Ich fürchte nein, Sir." "Leonard Quincy? Leonard Quincy? Sie selbst sagten, er sei völlig ungeeignet für den Außeneinsatz." Der Leiter des MI5 seufzte und sah sein Gegenüber einen Moment lang fast mitleidig an. "Herr, Premierminister. Er ist nun mal der einzige, der im Moment verfügbar ist. Wir haben einen eklatanten Personalmangel, seit Jacobson seinen NEIS aufgebaut hat." Der Premier seufzte ebenfalls. "Ich wünschte ich könnte ihnen mehr Männer zur Verfügung stellen." "Aber?" "Aber:Ich befürchte, der Premierminister ist nicht länger der mächtigste Mann im United Kingdom. Das ist mittlerweile Sonderbeauftrager Jacobson", meinte der Premier mit deutlichem Bedauern. "Und das lassen sie sich bieten?" "Wenn es mein Land aus der Krise herausführt - ja. Außerdem ist es nicht so einfach Jacobson wieder von der Macht weg zu bekommen, wie sie vielleicht denken. Und so lange er in dieser einflussreichen Position ist, werden wir beide wohl Dinge wie den National and Economic Intelligence Service hinnehmen müssen. Wir müssen uns damit arrangieren, dass die Ökonomen auch in Großbritannien immer mehr Regierungsaufgaben übernehmen."
Der Leiter des MI5 schüttelte den Kopf sagte jedoch nichts mehr. Eine ganze Weile schwiegen die beiden. Schließlich sagte der Premier jedoch: "Ich muss sie jetzt bitten zu gehen. Jacobson erwartet mich in einer Viertelstunde." Sein Gegenüber ging der Aufforderung nach. Aber ehe er den Raum ganz verließ, blieb er kurz nochmal stehen und sagte, wie zu niemand bestimmten: "Principiis obsta"*




* (Öffnen)
Wehre den Anfängen


Kommentare
~Es ist nicht tot was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt~