2. WK - Was wäre die Folge einer Besetzung von GB gewesen?

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DerStudti
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Re: 2. WK - Was wäre die Folge einer Besetzung von GB gewesen?

Beitragvon DerStudti » 1. Oktober 2015 16:54

Ein paar Anmerkungen:

1) Man darf bei diesem Gedankenspiel keinesfalls ausklammern, unter welchen Voraussetzungen eine Invasion hätte gelingen können, denn diese bilden die Grundlage für die danach herrschenden Kräfteverhältnisse und Erfordernisse. Geht man davon aus, dass viele oder wenige Besatzungstruppen notwendig wären? Dass die Luftwaffe viele oder wenige Verluste erlitten hätte? Dass die Kriegsmarine noch existiert oder der rein hypothetisch ebenfalls versenkten Home Fleet auf dem Meeresgrund Gesellschaft leistet?

2) Das ist aber nur ein Punkt von vielen, die in einer Kausalkette wirksam werden könnten. Das Verhalten der USA und Italiens wurde bereits genannt. Ein paar andere: Hätte Japan angesichts des bröckelnden Empires bis 1941 gewartet, um seine Expansion in Asien zu starten? Hätte es weiterhin die Notwendigkeit gesehen, den Präventivschlag gegen die USA durchzuführen? Und wie hätte sich Stalin verhalten? Gerade letzteres ist doch sehr unklar. Auf der einen Seite hätte er sicher annehmen müssen, nun das nächste Opfer zu sein. Auf der anderen Seite war er außenpolitisch erheblich weniger risikobereit als der Gefreite. Ob gegen Polen, Finnland, Rumänien oder die Baltischen Staaten...stets war er darauf aus, mit geringem Risiko Beute zu machen. Dies hätte wiederum gegen eine zügige Intervention gegen die Achsenmächte gesprochen und eher für einen Versuch, sich zu einem unattraktiven Ziel zu machen und neue Allianzen zu schmieden.

3) Der fundamentale Fehler beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion war weder strategischer noch taktischer, sondern politischer Natur: Es wurde auf das Prinzip "Ausbluten lassen" gesetzt. Ein tatsächliches Kriegsende war nie geplant. Stattdessen Vernichtung, Besatzung und Ausbeutung. Dementsprechend bezweifle ich stark, dass man von einem Siegesszenario ausgehen kann, wie es in Computerspielen zwangsläufig (aus Motivationsgründen) immer auftauchen muss. Einzelne dank fehlender britischer Hilfe ahistorisch gewonnene statt verlorene Schlachten hätten nichts daran geändert, dass eine dauerhafte militärische Besetzung eines Sechstels der Erdfläche, zumal oft weitab jeglicher Infrastruktur, schlicht unmöglich ist. Mehr als eine noch auf Jahre oder Jahrzehnte umkämpfte Demarkationslinie im Ural hätte sich das DR nicht erträumen können, und an diesem Szenario wäre es schließlich selbst ausgeblutet. Das Szenario aus "Fatherland" mit einem äußerlich Ende der 60er stabil wirkenden, mit den USA in einem Kalten Krieg stehenden, aber innerlich wankenden Reich, das sich im dauerhaften Partisanenkampf im Osten aufreibt, ist hier IMHO nicht unplausibel.

4) Generell wird bei solchen Gedankenspielen oft die Innenpolitik und die zeitliche Dimension unterschätzt. Orwell hat zwar eine Welt entworfen, die im Dauerkrieg zwischen Diktaturen steckt, damit die Bevölkerung von der herrschenden Klasse in Armut und Kontrolle gehalten werden kann, aber damit dies sich aus der WK2-Situation entwickelt hätte, wäre noch viel Entgleisung nötig gewesen. Die Voraussetzungen waren prinzipiell gegeben, aber neutrale Länder oder solche mit relativer Freiheit existierten noch. Die Diktaturen waren noch nicht unter sich. Auch dauerte der Krieg noch keine Jahrzehnte. Kurz: Die Macht der Diktaturen war nie gefestigt genug für einen Dauerkrieg und der innere Rückhalt für immer neue Kriege ist in der Realität doch viel geringer als auf dem Spielfeld. Fortdauernde Konflikte münden oft in Selbstzerfleischung, da Autokratien auf dem Prinzip der Machtkonkurrenz basieren. Wenn dann irgendwo Knappheit oder Krisen entstehen, werden zuerst die eigenen Schäfchen ins Trockene gebracht. Die von oben bis unten auf Linie gebrachte, einheitlich handelnde Staatsorganisation ist eine Illusion, die man leider automatisch mit dem Begriff Diktatur verbindet.
Die Essenz des Ganzen ist, dass man auch in Autokratien und Diktaturen nie die Bevölkerung außer Acht lassen sollte, wenn man über Entwicklungen spekuliert. Sie kann stur, ausdauernd und kämpferisch zäh sein, wenn sie das Gefühl hat, keine andere Wahl zu haben, aber sie kann sich auch verweigern und Kriegsbestrebungen sabotieren, wenn ihr der Krieg sinnlos erscheint. Diese Lage hätte es ggf. trotz aller Indoktrination gegeben, wenn immer neue Jahrgänge an einer Partisanenfront im Ural oder in der Dauerbesatzung Englands verheizt worden wären.

Mein persönliches Fazit: Ich halte Spekulationen über Langzeitfolgen einer möglichen erfolgreichen Invasion Englands für müßig, da zu viele Faktoren hineingespielt hätten. Mehr als einen Prognosehorizont von einem Jahr oder zweien kann man IMHO nicht anwenden. Und dann wird das Thema schnell uninteressant...

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Re: 2. WK - Was wäre die Folge einer Besetzung von GB gewesen?

Beitragvon Vampy » 5. April 2019 13:27

Es ist auch die Frage, ob Deutschland überhaupt den Willen hatte, um GB tatsächlich zu besetzen, oder ob "Seelöwe" nicht eher eine Drohgebärde war.

Ich habe vor einigen Wochen gelesen (ich meine, es waren Churchills Memoiren), dass Hitler ein berechtigtes Interesse hatte, um GB bzw. das Empire zu erhalten und das nicht nur aus "rassischen" Gesichtspunkten: Wäre das Empire tatsächlich zerfallen, dann hätten davon besonders die USA und Japan profitiert, was nicht in Hitlers Interesse war. Das soll u.a. das Motiv hinter "Dünnkirchen" gewesen sein (bzw. hinter dem Motiv die englische Armee bei Dünnkirchen zu schonen, um noch diplomatisch zum zug zu kommen) und auch dafür, dass der Ubootkrieg gegen England anfangs doch eher schleppend angelaufen ist.

Vor diesem Hintergrund hätte England bei einer geglückten Invasion vermutlich "ziemlich moderate" Bedingungen akzeptieren müssen. Nach o.g. Schilderung wäre ein intaktes, aber den Deutschen neutral bis freundlich gesonnenes Empire, viel wertvoller für Hitler gewesen, als ein zerschlagenes.
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Re: 2. WK - Was wäre die Folge einer Besetzung von GB gewesen?

Beitragvon nordstern » 5. April 2019 15:21

Besetzen heißt nicht erobern. Ich glaube nicht das Deutschland den Willen hatte England zu besetzen. Wäre dem der Fall gewesen, abgesehen vom logistischen Albtraum, hätte Hitler nie versucht Frieden mit England zu schließen. Genausowenig wie das DR je vorhatte komplett Russland zu besetzen.

Nein, ich denke das Ziel von Operation Seelöwe wäre es gewesen die Briten aus den Alliierten zu drängen durch eine Kapitulation und dann idealerweise als neutralen/Verbündeten zu bekommen. Nur ein Ausscheiden Englands hätte durch ihr Kolonialsystem massive Folgen gehabt. Ohne England wären große Teile des Commonwealth nicht mehr bereit gewesen weiter Krieg zu führen. Dazu wäre die Flottenüberlegenheit schlagartig zugunsten Deutschlands ausgeschlagen und jeder mögliche Brückenkopf in Europa verhindert worden. Strategisch war England extrem Wichtig... Besatzungstechnisch nicht.
Ich bin Legastheniker. Wer also Rechtschreibfehler oder unklare Formulierungen findet, soll bitte versuchen die Grundaussage zu verstehen oder darf sie gerne behalten :)

Danke für euer Verständnis.

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Re: 2. WK - Was wäre die Folge einer Besetzung von GB gewesen?

Beitragvon KirKanos » 17. April 2019 11:19

DerStudti hat geschrieben:3) Der fundamentale Fehler beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion war weder strategischer noch taktischer, sondern politischer Natur: Es wurde auf das Prinzip "Ausbluten lassen" gesetzt. Ein tatsächliches Kriegsende war nie geplant.


Das stimmt nicht so ganz, es gab schon eine konkrete Pläne für den Tag nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ausgewiesene Divisionen, mit dem entsprechenden Vorrat an Winterkleidung. Der Krieg sollte eben relativ schnell beendet werden. Ausbluten war ja eben gerade nicht die Agenda eines Blitzkriegs. Sich auf Material- und Abnutzungsschlachten mit der Sowjetunion einzulassen wäre aus Sicht der Wehrmacht Wahnsinn gewesen. Das Ziel war die schnelle Zerschlagung der Roten Armee unter möglichst geringen Verlusten. Der Führung schwebte da in etwa der Verlauf des Frankreichsfeldzugs vor, nur in weit größeren geographischen Rahmen (was sowohl gelang und wiederum auch nicht - aber das führt jetzt zu weit). Ausbluten sollte nur der Gegner, eigene Verluste mussten gering gehalten werden, sonst ging die ganze Rechnung nicht auf.

Wie Nordstern schon angedeutet hat, war der Plan nur den Westen der Sowjetunion zu besetzen und den Rest entweder als Satellitenstaat zu verwalten oder sich selbst zu überlassen.