I. Einleitung
„Diese Schwerfälligkeit, sich an veränderte militärische Vorraussetzungen anzupassen ist kennzeichnend für die germanische Kriegsführung“ (Todd, Malcolm. S. 41). Mit diesem Satz fasst der Historiker Malcolm Todd seine Meinung über die militärische Leistungsfähigkeit der Germanen zusammen. In dieser Untersuchung soll Todd`s These überprüft werden. Die Fragestellung ist, ob es eine Entwicklung und eine Variabilität in der germanischen Kriegsführung gab.
Bevor diese Fragen beantwortet werden können, gilt es zu definieren, wer oder was denn eigentlich „Germanen“ sind. Die Germanen sind eine Gruppe von Stämmen, die ursprünglich aus Skandinavien kommen und sich nach und nach über ganz Europa ausgebreitet haben. In der Frühphase der germanischen Expansion wurden Deutschland, Polen, Belgien und Teile Osteuropas besiedelt. Nach dem Fall der römischen Grenze im frühen 5. Jahrhundert n. Chr. siedelten Germanen auch in Westeuropa, in Italien, Frankreich Spanien.
Das hervorstechendste gemeinsame Element dieser Stämme sind Gemeinsamkeiten in ihrer Sprache. Alle germanischen Stämme haben eine Lautverschiebung in ihrer Sprache vorgenommen, die sogenannte “germanische Lautverschiebung“ oder auch “Grimm`s Law“ die den Übergang vom urindogermanischen zum urgermanischen Konsonantensystem markiert und im 1. Jahrtausend vor Christi Geburt stattfand. Nur die Kulturgruppe der Germanen – im Gegensatz zu den restlichen Indoeuropäern - hat diese Lautverschiebung vollzogen. So wurde zum Beispiel aus dem indogermanischen Laut “p“ der germanische Laut “f“ wie im englischem Wort “father“, aus dem indogermanischen “d“ wurde germanisch “t“.
Weiter gibt es gewisse archäologisch zu bestimmende germanische Kulturgruppen wie die Jastorf-Kultur, die aber nicht alle Germanen umfasst, oder die Gruppen der Elbgermanen, Nordgermanen und Nordseegermanen. Alle diese Gruppen hatten bei gewissen Unterschieden dennoch große Ähnlichkeiten in Bezug auf ihre Religion, ihre Lebensweise, ihre Moralvorstellungen und ihre Sprache.
Die germanische Kriegsführung "aller Germanen" soll nach soziologischen Gesichtspunkten in 3 Teile untergliedert werden:
Teil I. Das Kriegswesen germanischer Kleinstämme
Teil II. Das Kriegswesen germanischer Großstämme
Teil III. Das Kriegswesen germanischer Königreiche
Man kann über diese Einteilung sicherlich trefflich streiten und andere Auflösungsgrade des Phänomens erwägen. Es scheint aus der Sichtung der Quellen jedenfalls angebracht, nicht “das germanische Kriegswesen“ schlechthin, also über alle Epochen und Regionen summarisch erfassen zu wollen, wie es in bisherigen Werken zum Thema geschah. Vielmehr sollen die Varianten der germanischen Kriegsführung für jedes dieser 3 Zeitalter gezeigt werdenn und darauf aufbauend möglicherweise vorhandene Entwicklungen des germanischen Kriegswesens. Über die Zeitalter sollen sowohl die Bewaffnung (Trutzwaffen und Schutzwaffen) als auch die angewandten Militärtaktiken für jedes Zeitalter beschrieben werden.
Die 3 Zeitalter der germanischen Kriegsführung bedürfen einer genaueren Definition. Als Kriterien welche den germanischen Großstamm vom Kleinstamm unterscheiden dienen 1. Die Ausdehnung des von einem Stamm beherrschten Territoriums 2. Die Zahl waffenfähiger Männer, die ein Stamm aufbietet. Als Kriterien welche das germanische Königreich von den germanischen Großstämmen und von germanischen Kleinstämmen unterscheidet dienen 1. Das Vorhandensein einer Königsherrschaft über mindestens 2 Generationen (1) 2. Ein zentralisierter Staat mit Hauptstadt statt einer lockeren Konföderation zahlreicher kleinerer Verbände 3. Eine ortsgebundene Herrschaft.
Tabellarische Unterscheidung der 3 Formen germanischer Gemeinwesen in dieser Untersuchung:
Kleinstamm
- Ausdehnung des vom Stamm beherrschten Territoriums ist in wenigen Tagesmärschen zu durcheilen
- unter 10.000 waffenfähige Männer werden aufgeboten (2)
Großstamm
- Ausdehnung des vom Stamm beherrschten Territoriums ist nur noch in vielen Tagesmärschen oder gar Wochen zu durcheilen
- über 10.000 waffenfähige Männer werden aufgeboten (2)
Königreich
- hat einen König schon in mindestens der 2. Generation
- hat eine Zentralisierung des Gemeinwesens
- ortsgebundene Herrschaft (3)
Man kann selbstverständlich diskutieren, ob die Untersuchung germanischen Kriegswesens in der Form einer Aufteilung der germanischen Gemeinwesen nach deren Organisationsform sinnvoll ist. Lässt sich überhaupt eine ganz präzise Unterscheidung von Kleinstämmen gegenüber Großstämmen treffen? Ist ein Stamm, der seine Kriegerzahl von 9.000 auf 11.000 erhöht somit vom Kleinstamm zum Großstamm geworden?
Alternativen zu dieser Betrachtungsweise wären entweder der völlige Verzicht der Einführung eines Ordnungssystemes der germanischen Stämme oder aber eine Untersuchung der Entwicklung der germanischen Kriegsführung nach Zeitaltern. Der Verzicht auf die Unterscheidung germanischen Kriegsführung zu verschiedenen Zeiten oder der Organisationgröße von germanischen Gemeinwesen als Ordnungsprinzip würde dazu führen, die gesamte germanische Kriegsführung aller Zeitalter und Organisationsformen untersuchen zu wollen. Man würde also das Kriegswesen “der Germanen“ schlechthin untersuchen und dabei Kleinstämme wie die Cherusker und Angrivarier mit großen Wandervölkern der Westgoten und Vandalen und germanischen Königreichen wie jenen der Franken und Burgunder in einen Topf werfen. Offensichtlich ist aber eine Reiterarmee des großen Wanderstammes der Ostgoten im 4. Jahrhundert n. Chr. etwas anderes als ein Stammesaufgebot des Kleinstammes der Cherusker im 1. Jahrhundert n. Chr. oder ein Heer aus schwergepanzerten Panzerreitern und unterstützender Infanterie der Franken im 9. Jahrhundert n. Chr.. Weiter bringt die konsequente Unterscheidung nach Organisationsformen germanischer Gemeinwesen auch die Chance möglicherweise vorhandene Entwicklungen im Lauf der Zeit besser zu erkennen.
Alternative zur Untersuchung nach gesellschaftlichen Organisationsformen wäre die Untersuchung germanischer Kriegsführung nach Epochen. Denkbare Epochengrenzen wären zum Beispiel Zeitalter 1: 200 v. Chr.G. - 200 n. Chr.G., Zeitalter 2: 200 n. Chr.G. - 450 n. Chr.G. und Zeitalter 3: 450 n. Chr.G. - 950 n. Chr.G.. Diese 3 Zeitalter entsprechen allerdings ganz überwiegend den Organisationsformen germanische Kleinstämme → Zeitalter 1, germanische Großstämme → Zeialter 2 und germanische Königreiche → Zeitalter 3. Somit kann man gleich die soziale Organisationsform als Kriterium der Entwicklung nehmen, die mehr erklärt als der Zeitpunkt alleine. Vergleicht man den soziologischen Zugang zur Entwicklung der germanischen Militärstrategie mit dem zeitlichen Zugang zur Entwicklung der germanischen Militärstrategie so fällt auf, dass die überwiegende Zahl der Germanen in der für ihr Zeitalter typischen Form politisch organisiert waren, es aber auch in jedem Zeitalter Vorläufer und Nachzügler gab. Die Herrschaft des Marbod im 1. Jahrhundert nach Christi fällt in die Zeit germanischer Kleinstämme und greift so der typischen Entwicklung voraus. Da Marbods Königtum nicht tradiert wurde (sein Reich wurde schon zu seinen Lebzeiten zerstört, Marbod zu einem Nebendarsteller der politischen Bühne des germanischen Mitteleuropa degradiert) werte ich es nicht als richtiges Königreich sondern als Großstamm, Marbod als Warlord. Auch die Kimbern, Teutonen und Ambronen haben schon im 2. Jahrhundert v. Chr. Geburt also im Zeitalter wo der Kleinstamm die vorherrschende Organisationsform der Germanen war einen Großstamm gebildet und waren somit ihrer Zeit voraus. Bezeichnenderwesie war dieser Großstamm militärisch weit erfolgreicher als die Kleinstämme seiner Zeit und brachte die römische Republik nahe an den Rand des Zusammenbruches. Die Sachsen im Frühmittelalter und die Friesen sogar im Mittelalter waren dagegen immer noch in der Form eines föderalistischen Großstammes organisiert, während um sie herum die anderen Germanen Königreiche (Das Frankenreich, das Königreich Dänemark z.B.) gebildet hatten. Ein weiterer Betrachtungspunkt wäre also zu prüfen, ob germanische Gemeinwesen die eine für ihre Zeit untypische Organisationsform hatten auch ein demenstprechende Kriegswesen aufwiesen. Ein Großstamm der im Zeitalter der Kleinstämme exiestiert, wie zum Beispiel der Großstamm der Kimbern, Teutonen und Ambronen oder die Ariovistkoalition sollten über ein anderes Militärwesen verfügen als die Kleinstämme ihrer Zeit. Der militärisch große Erfolg der beiden letztgenannten Großstämme legt nahe, dass diese schon anders agierten als die Kleinstämme ihrer Zeit, ist aber kein regelrechter Beweis dafür. Zu beweisen ob Gemeinwesen die ihrer Zeit voraus waren auch allesamt schon eine andere Militärstrategie verfolgten ist allerdings nicht das zentrale Anliegen dieses Textes. Hier soll vor allem die Militärstrategie germanischer Gemeinwesen der Organisationsformen Kleinstamm, Großstamm und Königreich verglichen werden.
Erstaunlich bei der modernen Literatur über die germanische Kriegsführung ist das obsessive Festhalten am Bild der ungeordneten Barbarenhaufen, welche ohne Taktik blindlings anstürmen. In den klassischen Quellen, so etwa der „Germania“ oder dem „De bello Gallico“ werden die Germanen als in Formationen kämpfend geschildert, unorganisierte Massen von Barbaren scheint keiner der Zeitgenossen beobachtet zu haben. Die modernen Historiker beschreiben dagegen die germanische Kriegsführung gekennzeichnet von ungeordneten Heerhaufen und mangelnder Lernfähigkeit in militärischen Dingen. Selbst wo Quellen einbezogen wurden, die diesem Bild widersprechen, biegt man lieber die Fakten zurecht, als das etablierte Bild germanischer Pöbelhaufen zugunsten germanischer organisierter Heere in Frage zu stellen. So schreibt der Herausgeber des „De bello Gallico“ Otto Schönberger zur Kriegsführung der Gallier und Germanen (4) „Taktische Einheiten und Verbände gab es nicht. Die ungestümen Kämpfer waren dem disziplinierten Römerheer nicht gewachsen“ *3
Caesar selbst als aktiver Teilnehmer und Zeitzeuge des gallischen Krieges vertritt im Buch vom gallischen Krieg genau die gegenteilige Auffassung über das germanische Kriegswesen wie sein moderner Vowortschreiber (über die Schlacht gegen die Germanen der Ariovistkoalition): „Doch bildeten die Germanen nach ihrer Gewohnheit rasch eine feste Linie und begegneten so dem Schwertangriff“ (*3, Seite 73). Witzig zu sehen, wie selbst die explizite Beschreibung organisierter germanischer Kriegsführung von dem modernen Herausgeber auf das Klischee berbarischer Pöbelhaufen reduziert wird.
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Fußnoten Einleitung
(1) Weshalb ich die politischen Gebilde des Marbod oder des Ariovist nicht als Königreiche ansehe. Man würde zunächst neigen deren Verbände als Königreiche anzusehen. Da es aber keine Tradierung der Königsherrschaft gab handelt es sich bei Marbod als auch Ariovist um Warlords, die eben nur zeitweilig eine große Gemeinschaft an sich binden konnten welche einen Raum beherrschte. Auch weitere Kriterien der Königsherrschaft, welche ich verwende, wie Zentralisierung oder ortsgebundene Herrschaft bleiben unklar bei diesen beiden.
(2) Theoretisch kann jedes Gemeinwesen nahezu alle Männer aufbieten, die eben noch laufen können. Diese Zahl ist aber nicht militärisch bedeutsam. Militärisch bedeutsam ist eine kleiner Zahl, die der waffenfähigen und kriegstauglichen Männer. Ich gehe noch unter diese Zahl, indem ich nur das tatsächliche Aufgebot eines Gemeinwesens als dessen Armee veranschlage.
(3) Im Gegensatz zu wandernden Stämmen.
(4) Ein Teil der Stämme gegen die Caesar in Gallien kämpfte waren in Gallien ansässige Germanen wie zum Beispiel die Sueben und Vangionen oder keltisierte Germanen wie die Belger.