Kapitel 2 – Das Geheimnis der Halskette:
Naleya rannte eine ganze Stunde lang ununterbrochen durch den dichten Wald, ehe sie letztendlich erschöpft anhielt, um sich ein wenig auszuruhen. Sie war vollkommen außer Atem und ihre Lungen fühlten sich an, als wenn sie brennen würden. Sie stützte sich an einem nahen Baum ab und sah sich ein paar Minuten lang um, während sie immer wieder tief ein- und ausatmete. Es schien nicht so, als wenn sie verfolgt wurde, zwar hatte sie nicht wirklich damit gerechnet, aber es beruhigte sie trotzdem zu sehen, dass wirklich niemand hinter ihr her war. Das hielt allerdings nicht lange an, denn nun begann sie, sich um Uriel Sorgen zu machen. Zwar war sie allem Anschein nach wirklich ein Erzengel, aber sie war auch schwer verletzt gewesen, also musste es ihren Verfolgern bereits einmal gelungen sein, sie in die Ecke zu drängen. Naleya überlegte kurz, ob sie nicht umkehren und versuchen sollte, der Frau zu helfen, schüttelte dann jedoch den Kopf. Uriel hatte sehr deutlich gemacht, dass sie keine Hilfe wollte und dass es wichtiger war, die seltsame Halskette vor ihren Verfolgern zu verstecken... also vor der Inquisition. Die Alchemistin schluckte nervös, während sie die Halskette aus einer Tasche zog und sie sich genauer ansah. In was für eine seltsame Situation hatte sie sich da wieder manövriert? War es wirklich richtig, die Halskette zu nehmen und Uriel zu helfen? Als sie der verletzten Frau begegnet war, hatte sie sich nicht wirklich Gedanken darüber gemacht, was richtig und was falsch war, selbst als Uriels Warnung hörte. Naleya war es einfach wichtiger gewesen, der Verletzten zu helfen. Erst jetzt, wo sie genug Zeit hatte über die ganze Situation nachzudenken fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht gerade dabei war, einen großen Fehler zu begehen. Immerhin stand die Inquisition unter dem direkten Befehl des Paladins, dem Herrscher von Demeor und Oberhaupt der Kirche des Nuvaz. Da der Paladin der Auserwählte Nuvaz' auf Erden war, waren viele der Meinung, dass seine Befehle denen des Gottes selbst gleichkamen, was letztendlich bedeutete, dass die Inquisition im Sinne des Nuvaz handelten. Allerdings hatte auch Uriel behauptet, sie handele im Interesse des Gottes und auf Naleya nicht wirklich den Eindruck gemacht, als wenn sie lügen würde. Also wie sollte sie die ganze Situation verstehen? Konnte es sein, dass sowohl Inquisition als auch Erzengel den Befehlen des Gottes folgten und sich dabei gegenseitig in die Quere kamen? Eigentlich unvorstellbar, aber eine bessere Erklärung wollte Naleya momentan nicht einfallen, die einzige andere Möglichkeit, die ihr in den Sinn kam war, dass eine der beiden Seiten sich gegen Gott gestellt hatte, und das konnte sie sich weder bei Engeln noch bei der Inquisition vorstellen. Die Antwort auf die Frage, was hier eigentlich los war, befand sich immerhin direkt vor ihr, was schonmal ein Anfang war. Naleya hatte keinerlei Zweifel, dass die Halskette die Ursache des ganzen war, auch wenn sie nicht wirklich etwas besonderes daran erkennen konnte. Dem Obelisken, der an der Kette hing, schienen Unmengen von Magie innezuwohnen, aber das war nicht wirklich ungewöhnlich, es gab viele Artefakte in Form von Halsketten oder Ringen, in denen mächtige Zauber wohnten. Der einzige, wirkliche Unterschied zu solchen Artefakten den Naleya erkennen konnte, waren die grünen Runen, die in das Obsidian eingraviert waren und zu pulsieren schienen, dass, und der Fakt, dass sie deutlich einen starken Siegelzauber spüren konnte, der auf dem Obelisken lag. Nachdem sie den Obelisken eine Weile lang gründlich begutachtet hatte, steckte sie ihn wieder weg und setzte sich wieder in Bewegung, mit entschlossener Miene im Gesicht. Als sie Uriel versprach, das Siegel zu lösen, hatte sie es zwar durchaus ernst gemeint und nicht daran gedacht, das Versprechen zu brechen, aber erst jetzt war sie wirklich entschlossen, das ganze auch durchzuziehen. Naleya war zwar ein wenig misstrauisch wegen der ganzen Sache, aber sie war auch neugierig, sehr neugierig, und wollte unbedingt wissen, was es mit diesem seltsamen Artefakt auf sich hatte. Was für ein Zauber konnte wohl in diesem Stein eingeschlossen sein, dass er versiegelt werden musste? Handelte es sich vielleicht um Geheimnisse der Engel, die darin verschlossen waren? Mächtige Zauberformeln? Bauanleitungen für außergewöhnliche Konstruktionen? Rezepte für neue Medizin? Naleya wollte es herausfinden, weshalb sie schon halb hoffte, dass Uriel nicht auftauchen würde, um sich die Halskette zurückzuholen, schämte sich jedoch sofort dafür. Sie hoffte natürlich, dass der Elfe nichts schlimmes passierte, aber wenn sie irgendwie ein paar Tage verhindert wäre, vielleicht, weil sie sich irgendwo verstecken musste, dann wäre das Naleya äußerst willkommen. Leise vor sich hinsummend ging sie weiter in Richtung Amderad und ging im Kopf bereits mögliche Vorgehensweisen durch, um das Siegel zu brechen. Ein paar Stunden später, die Sonne begann bereits, hinter dem Horizont zu verschwinden, erreichte Naleya die Palisade von Amderad, wo zwei Soldaten der Stadtwache standen und gelangweilt Löcher in die Luft starrten. Als Naleya das Tor erreichte winkten ihnen die Wachen zu und lächelten sie an.
„Guten Abend, Naleya. Alles gefunden?“ fragte eine der Wachen, ein älterer Mann mit grauem Vollbart, der sich auf seinen Speer stützte, während er Schweiß von seiner Stirn wischte. Es war Spätsommer und da selbst im Winter relativ hohe Temperaturen herrschten, war es sogar Abends noch unerträglich heiß. Im schattigen Wald, hatte Naleya davon nicht viel mitbekommen, aber jetzt, wo sie sich wieder in Amderad befand, wurde auch ihr wieder bewusst, wie heiß es doch eigentlich war.
„Ja... größtenteils zumindest.“ sagte Naleya und lächelte ebenfalls. Sie hatte zwar nicht viele Leute in Amderad, die sie wirklich zu ihren Freunden zählen würde, aber zu den meisten Einwohnern unterhielt sie immerhin freundliche Beziehungen. „Ein paar Malneonbeeren musste ich leider opfern.“ Erst jetzt schienen die Wachen zu bemerken, dass aus Naleyas Weste einige Streifen geschnitten waren und traten besorgt etwas näher.
„Was ist denn mit dir passiert? Wurdest du angegriffen?“ fragte der ältere Mann, woraufhin Naleya verlegen lächelnd abwinkte.
„Ach was, nein, keine Sorge! Das heißt... ich wurde schon angegriffen, von einem Wolf, aber mit dem bin ich problemlos fertig geworden.“
„Wirklich? Was ist dann mit deiner Weste passiert?“ fragte der jüngere der beiden Männer, woraufhin Naleya kurz zögerte. Es gab zwar keinen wirklichen Grund zu lügen... aber einerseits würde ihr eh niemand glauben, dass sie einen Erzengel getroffen und gerettet hatte und andererseits, könnte es die Inquisition zu ihr führen, wenn sie so etwas rumerzählte. Also überlegte sie kurz, ehe sie sich eine Geschichte einfallen ließ, in der zumindest ein wenig von der Wahrheit steckte.
„Ich habe einen Jäger gefunden, der von einem Bären verletzt worden war. Leider hatte ich kein Verbandszeug dabei, also habe ich meine Weste genutzt und ein paar Malneonbeeren geopfert, um ihm zu helfen.“ sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie war nicht sonderlich stolz darauf, aber im Lügen war sie immer recht gut gewesen.
„Ein verletzter Jäger? Wo ist er? Wir werden sofort Hilfe schicken.“
„Das wird nicht nötig sein.“ sagte Naleya und lächelte die Wachen beruhigend an. „Er war nicht alleine, sondern mit ein paar anderen Jägern unterwegs, einer von ihnen war ein Elf. Ich habe ihn bis zu seinem Lager gebracht, seine Freunde kümmern sich jetzt um ihn.“
„Oh... gut, das ist beruhigend. Aber es ist ein wenig seltsam, dass ein Jäger von einem Bären verletzt wurde... hier gab es in letzter Zeit nicht allzu viele Bären und ein erfahrener Jäger weiß eigentlich, wie man mit ihnen umgehen muss.“
„Er... na ja, ich will nicht schlecht von ihm reden, aber er wirkte nicht wie ein erfahrener Jäger. Ich denke eher, dass es seine erste Jagd war und er ein wenig übermütig wurde, er war nicht viel älter als ich.“ sagte Naleya und sah zu Boden, während sie darüber nachdachte, dass die Wahrheit noch viel seltsamer für die Wachen sein würde, als ihre erfundene Geschichte. Der alte Mann schien ihr ihre Geschichte jedenfalls abzukaufen, denn er ließ ein abfälliges Grunzen hören und sagte
„Typisch für die heutige Jugend, rennen der Gefahr hinterher, nur um sich beweisen zu können. Zu meiner Zeit...“
„Wurde gerade das Feuer entdeckt.“ kanzelte ihn sein junger Kollege ab und streckte ihm die Zunge raus, woraufhin der Mann wütend in seinen Bart murmelte. „Wir haben dich schon lange genug aufgehalten.“ sagte der junge Wachmann schließlich an Naleya gewandt und warf einen belustigten Blick zu seinem Kollegen, der noch immer beleidigt zu sein schien. „Ich werde versuchen, ihn wieder ein wenig aufzumuntern, ich bin mir sicher, du musst die gesammelten Zutaten irgendwie präparieren, damit sie nicht schlecht werden.“
„Oh... ja, stimmt. Danke, dass du mich daran erinnert hast.“ sagte Naleya und lachte auf. „Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Also gut, man sieht sich!“
„Auf Wiedersehen.“
„Viel Spaß bei der Arbeit.“ Nachdem sie sich von den Wachen verabschiedet hatte betrat Naleya Amderad und folgte der Straße eine Weile lang, bis sie sich teilte, und die Alchemistin nach links abbog, in eine kleinere Seitenstraße. Ein paar Minuten später erreichte sie auch ihr Ziel, einen kleinen Platz, auf dem ein gutes Dutzend Marktstände platziert waren, die jedoch schon leergeräumt waren. Die letzten Händler verließen gerade den Marktplatz, unter ihnen war auch Temeria, die Naleya fröhlich zuwinkte. Sie verabschiedete sich kurz von ihrer Gesprächspartnerin, einer älteren Frau, in der Naleya eine Fischhändlerin erkannte, und ging zur Alchemistin hinüber.
„Hallo Naleya! Wie ich sehe, bist du unversehrt... oh! Bei Nuvaz, was ist mit deiner Weste passiert?“ fragte sie erschrocken, als sie vor Naleya stand.
„Mach dir keine Sorgen, das war ich selber.“ beruhigte Naleya ihre Freundin und lächelte, als sie sah, wie besorgt Temeria sie musterte. „Ich musste einem verletzten Jäger helfen, der sich bei der Bärenjagd ein wenig überschätzt hat, nichts besonderes.“
„Ah... ich verstehe.“ sagte Temeria und seufzte. „Du hast mir einen ziemlichen Schreck damit eingejagt!“
„Tut mir leid... auch wenn ich nichts dafür kann, dass du in solchen Situationen überreagierst.“
„Ich reagiere nicht über, ich mache mir nur Sorgen um meine beste Freundin.“ wehrte Temeria ab und verschränkte ihre Arme vor der Brust, lächelte jedoch. „Immerhin hast du es früher auch immer geschafft, dich in irgendwelche gefährlichen Situationen zu bringen. Ich erinnere mich noch, als du zehn warst und dich in der Reliquienkammer von...“
„Temeria!“ fuhr Naleya dazwischen, lief rot an und legte ihrer Freundin die Hände vor den Mund. Sie erinnerte sich nur äußerst ungern an die Nacht in Panyeon, die sie ausversehen in der Reliquienkammer der dortigen Kathedrale verbracht hatte. Eigentlich wollte sie ihren Eltern einen Streich spielen und dachte, dass die Kammer ein gutes Versteck abgeben würde. Jedoch war es niemandem gelungen sie zu finden und die Kammer wurde abgeschlossen, als alle die Kathedrale verließen. Egal wie laut Naleya rief, niemand hatte sie gehört und so musste sie wohl oder übel dort übernachten, zwischen unheimlichen Gemälden, Statuen und Rüstungen. Am meisten Angst hatte sie jedoch vor einer schlichten, schwarzen Truhe gehabt, die in einer Ecke der Kammer gewesen war. Damals glaubte sie, dass irgendetwas in der Truhe zu ihr sprach, mit einer flüsternden Stimme. Selbst als sie sich die Ohren zugehalten hatte, fand das Geflüster kein Ende und Naleya hatte vor lauter Angst angefangen zu weinen und konnte nicht schlafen, selbst, als das Geflüster irgendwann verstummt war. Als man die Kammer am nächsten Tag aufschloss, hatte man Naleya sofort gefunden, aber als sie den Erwachsenen von der Stimme erzählte, wurde sie nur ausgelacht und man sagte ihr, sie habe sich das ganze in ihrer Angst nur eingebildet. Selbst Temeria hatte ihr nicht geglaubt, nutzte die Situation jedoch noch immer gerne, um Naleya aufzuziehen.
„Schon gut, ich höre ja schon auf.“ meinte die Händlerin und lachte. „Ich wollte eh nur darauf hinaus, dass du damals ziemlichen Ärger von deinen Eltern bekommen hast, wegen der ganzen Sache.“
„Oh... ja.“ murmelte Naleya und senkte den Blick. Nie hatten ihre Eltern mehr mit ihr geschimpft, als am Tag, als sie aus der Kammer geschlichen kam und von ihren Erlebnissen berichtete. Nicht etwa, weil sie Angst um die Gegenstände dort hatten, sondern weil sie sich unglaubliche Sorgen um Naleya gemacht hatten. Wie sie später zu hören bekam, war eine ganze Truppe der Stadtwache von Panyeon damit beschäftigt gewesen, die Stadt nach ihr zu durchkämmen, und Naleya war gezwungen, sich beim Anführer der Truppe für den Ärger zu entschuldigen, den sie verursacht hatte.
„Kommst du noch mit, etwas essen? Oder vielleicht etwas trinken?“ fragte Temeria und wechselte somit das Thema. Naleya dachte kurz nach, schüttelte dann jedoch den Kopf.
„Tut mir leid, ich bin ein wenig erschöpft und möchte heute einmal früh schlafen gehen... aber ich wollte mir Morgen einmal freinehmen, hast du da Zeit?“ Temeria überlegte kurz und nickte dann.
„Geht in Ordnung, ich hole dich dann gegen Nachmittag ab.“
„Gut, ich freue mich schon.“
„Ich auch, und ich sehe schon, dass du mich loswerden willst.“ meinte Temeria scherzhaft und streckte ihrer Freundin die Zunge raus.
„Das stimmt gar nicht!“ sagte Naleya, die zwar wusste, dass ihre Freundin einen Scherz machte, das ganze aber doch nicht auf sich sitzen lassen wollte. „Es ist nur so...“
„Dass du früh schlafen willst, aber trotzdem noch die gesammelten Materialien wegpacken musst, ich weiß.“ Temeria seufzte. „Ich denke es ist gut, dass du dir Morgen freinimmst. Ich habe immer wieder Angst, dass du dich überarbeitest.“ Naleya lachte unbeholfen und kratzte sich am Hinterkopf.
„Ich will nicht sagen, dass es nicht anstrengend ist... aber so ist die Arbeit als Alchemistin nun einmal, das lässt sich nicht ändern.“
„Ich weiß, ich weiß. Also gut, dann wünsche ich dir eine gute Nacht, wir sehen uns Morgen.“
„Bis dann.“ sagte Naleya und winkte ihrer Freundin zum Abschied, die sich abwandte und in Richtung Hafen verschwand, wo ihre Tante wohnte. Nachdem Naleya nun alleine auf dem kleinen Marktplatz stand streckte sie sich kurz, ehe sie über den Platz ging und schließlich bei ihrer Werkstatt ankam, die am äußersten Rand des Markts stand. Während sie die Tür aufschloss dachte sie, nicht zum ersten mal, darüber nach, dass sie vielleicht auch nicht gerade den besten Platz für ihre Werkstatt gewählt hatte. Es wäre vielleicht besser gewesen, ihn in der Nähe des Hafens zu errichten, oder beim zweiten, größeren Marktplatz, der in der Mitte von Amderad war. Dort waren immerhin häufiger Reisende anzutreffen, als so nahe an der Nordpalisade der Ortschaft. Kaum hatte sie den Laden betreten, schloss sie auch schon wieder hinter sich ab, durchquerte den Raum und ging die Treppe hinunter in den Keller, wo sich ihre eigentliche Werkstatt befand. Sie sah sich kurz um und lächelte, wie jedes mal, wenn sie hier hin kam. Zwar besaß sie die Werkstatt schon seit knapp einem Jahr, aber sie freute sich noch immer jedes mal wie ein kleines Kind, wenn sie hier hineinging. Seit sie mit ihren Eltern einmal in Panyeon bei einem berühmten Alchemisten zu Besuch war, hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als selber Alchemistin zu werden und eine eigene Werkstatt zu besitzen. An den Wänden der Werkstatt hingen kleine Lampen, in denen blaue Edelsteine schwebten, von denen ein sanftes, warmes Licht ausging. Es handelte sich dabei um gewöhnliche Steine, die mit Magie aufgeladen wurden, was ihnen das Aussehen von Edelsteinen verlieh und dafür sorgte, dass sie in der Dunkelheit leuchteten. Solche Steine waren leicht herzustellen und äußerst beliebt, denn das Leuchten hielt bis zu sechs Monate an, weshalb man kaum noch gewöhnliche Öllampen benutzen musste, nur eine der vielen, nützlichen Erfindungen, welche die Welt der Alchemie zu verdanken hatte. In der hintersten Ecke des geräumigen Kellers, war ihre Schmiede, mit Esse, Blasebalg und Amboss, klein, aber genug, um das wichtigste herzustellen. Die gesamte linke Wand des Kellers war mit Schränken und Regalen zugepflastert, auf denen Körbe und Kisten in verschiedensten Größen standen, die mit Kräutern, Früchten, Beeren und anderen Pflanzen gefüllt waren, aber es gab auch welche in denen sich seltene Erze und Steine befanden, und in einigen Kisten wurden Felle und Knochen aufbewahrt. Trotz der geringen Anzahl von Kunden legte Naleya viel wert darauf, dass es in ihrer Werkstatt nie an Materialien mangelte. Neben der Schmiedeecke und den Schränken gab es außerdem noch einen Tisch, auf dem mehrere seltsam geformte Glasbehälter und Fläschchen standen, das war die 'Mischecke', wie Naleya es immer nannte. Hier stellte sie Farbstoffe und Medizin her, oder experimentierte mit verschiedenen Flüssigkeiten und Pflanzen herum. Der letzte, und vielleicht wichtigste, Teil der Werkstatt war ein runder Tisch, der in der Mitte des Raums stand und auf dem mit blauer Farbe seltsame Runen gezeichnet waren. Dieser Tisch war dazu da, um magische Gegenstände zu untersuchen, oder eigene zu kreieren. Naleya strich kurz mit der Hand über den Tisch und ihr Lächeln wurde breiter. Es war lange her, dass sie ihn benutzen musste, umso mehr freute es sie, dass sie in den nächsten Tagen wohl die meiste Zeit an ihm verbringen würde... vorausgesetzt, Uriel tauchte wirklich nicht auf, um die Halskette zu holen. Schließlich ging Naleya zu den Schränken und begann ein Lied vor sich hinzusummen, während sie die Zutaten in die Körbe und Kisten sortierte. Als sie fertig war zögerte sie kurz, stellte den Sammelkorb in die Ecke und zog das Fläschchen hervor, dass sie mit dem Blut des Erzengels gefüllt hatte. Sie starrte es eine ganze Weile an und rang innerlich mit sich. Als sie das Blut eingesammelt hatte, wusste sie nicht, worum es sich handelte, jetzt wo sie es wusste war sie sich nicht sicher, ob sie es behalten, oder doch lieber entsorgen sollte. Es fühlte sich einfach... falsch an, Blut eines Engels auch nur rumstehen zu haben, geschweige denn, es für irgendwelche Experimente zu nutzen. Andererseits, wann bekam man schonmal die Möglichkeit, diese heiligen Wesen ein wenig genauer zu untersuchen? Naleyas Lehrer, der sie in die Künste der Alchemie eingeweiht hatte, sagte immer, dass bei Alchemisten eine Schraube locker war, dass sie einen Tick hatten, der sie dazu trieb immer neue Dinge zu erfinden und eine Art Zwang auslöste, alles zu untersuchen und alles zu wissen, was es zu wissen gab. Naleya seufzte schließlich und musste sich, nicht zum ersten mal, eingestehen, dass ihr Lehrer recht hatte. Es konnte sich noch so falsch anfühlen, Blut eines Engels zu besitzen, sie konnte einfach nicht anders, als es zu behalten und zu untersuchen. Also legte sie das Fläschchen auf den Tisch ihrer Mischecke, ehe sie die Treppe hinauf in den Laden ging. Dort ging sie zum Tresen hinüber, öffnete eine Schublade und zog die Halskette hervor, die sie noch einmal genau beobachtete, bevor sie lächelte und das Schmuckstück in die Schublade legte. „Warte nur ab, ich werde schon noch rausfinden, was für Geheimnisse du verbirgst.“ murmelte sie, während sie die Schublade schloss. Dann streckte sie sich, gähnte und machte sich auf den Weg zur Treppe. Kaum war sie in ihrem Zimmer angekommen, zog sie auch schon ihre Sachen aus, schleuderte sie in eine Ecke und ließ sich ins Bett fallen, und keine zwei Minuten später, war sie auch schon eingeschlafen.
„Du siehst schrecklich aus.“ Naleya verzog das Gesicht, als sie die Begrüßung ihrer Freundin hörte. Es war zwar bereits spät am Nachmittag, aber Naleya war trotzdem gerade erst aufgestanden und hatte es geradeso geschafft sich zu waschen, ehe Temeria vor ihrer Tür stand.
„Ich liebe dich auch.“ murmelte sie als Antwort, während sie sich die Augen rieb.
„Ich dachte, du wolltest früher ins Bett gehen?“ fragte Temeria belustigt und trat einen Schritt zur Seite, damit Naleya ihren Laden verlassen konnte.
„Habe ich auch gemacht.“ antwortete die Alchemistin, während sie den Laden abschloss und seufzte dann. „Ich bin auch sofort eingeschlafen, aber ich bin immer wieder aufgewacht.“
„Albträume? Weil ich die Reliquienkammer erwähnt habe?“ bohrte Temeria nach und sprach 'Reliquienkammer' dabei so gruselig wie möglich aus. Naleya entschloss sich den Scherz zu ignorieren, ihr war nicht danach zumute.
„Keine Albträume, aber... seltsame Träume.“ Temeria wurde schlagartig ernst.
„Was war an ihnen seltsam?“
„Na ja, es ist... nichts passiert. Ich war nur in einem vollkommen weißen Raum und eine Stimme hat in einer fremden Sprache ständig etwas gesagt, natürlich habe ich kein Wort verstanden.“
„Hm... weißt du, was ich glaube?“
„Nein, was denn?“
„Dass du dich überarbeitet hast! Verrückte Träume kommen immer dann, wenn man sich nicht genug ausruht.“ sagte Temeria fröhlich und legte einen Arm um Naleyas Schulter.
„Ich glaube nicht, dass das so funktioniert.“ meinte die Alchemistin, wurde jedoch ignoriert.
„Überhaupt stelle ich mir die Frage, wie man in einer Sprache träumen kann, die man gar nicht kennt. Hast du die Sprache vorher schon einmal gehört?“
„Nein, noch nie, ich kann es mir auch nicht erklären.“ Temeria seufzte.
„Vergessen wir die ganze Sache am besten und konzentrieren uns darauf, einen schönen Abend zu haben, ja?“
„Ja... ich denke, das ist eine gute Idee.“ meinte Naleya und gähnte. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so müde gefühlt, ob es vielleicht an der Hitze lag? Sie trug ein dünnes, langärmeliges Hemd aus blauer Seide, wodurch sie ziemlich viel Luft bekam, und trotzdem fühlte sie sich so, als wenn sie jeden Augenblick einen Hitzeschlag kriegen könnte. Temeria hingegen trug eine ärmellose Bluse und einen kurzen Rock mit hohen Strümpfen, sie schien keinerlei Probleme mit der Hitze zu haben... als Naleya die Kleidung genauer beobachtete bemerkte sie auch den Grund dafür und ihr fiel ein, woher sie die Sachen kannte. „Oh... die Bluse und der Rock... die habe ich doch mal für dich gemacht, oder?“
„Hat ja lange genug gedauert.“ meinte Temeria lachend. „Ja, hast du. Vielen Dank dafür übrigens, die eingewobenen Zauber funktionieren auch noch so wie sie es sollten.“ Langsam konnte Naleya sich wieder an die ganze Sache erinnern, sie hatte die Kleidung vor ein paar Monaten für ihre Freundin hergestellt und dabei einen Zauber benutzt, der vor Wärme schützte, kein Wunder, dass Temeria so problemlos mit der knallenden Sonne zurechtkam.
„Ich hätte mir auch solche Kleider machen sollen.“ sagte die Alchemistin mit einem Seufzen und fächerte sich mit der Hand ein wenig Luft zu, woraufhin Temeria sie verdutzt ansah.
„Du meinst... du hast keinen dieser Zauber in deinem Hemd zu stecken?“
„Leider nicht.“ Naleya schnitt eine Grimasse, während sie das sagte und versuchte die sengende Hitze zu ignorieren. „Für den Zauber und das Einweben in die Kleidung braucht man Azurerz aus den G'lor Bergen, meine letzten Vorräte davon, habe ich für deine Sachen benutzt. Ich hoffe, die Hámmeth-Karawane bringt mehr davon hierher, sonst muss ich wohl Panyeon, um es mir zu holen.“ Die G'lor Berge waren eine Gebirgskette, die sich auf Dergnov befand und die unter der Kontrolle der Goblins stand, die damit mehr Gold anhäuften, als sie jemals ausgeben könnten, denn die Berge waren der einzige Ort, an dem man das magische Azurerz abbauen konnte, dass Grundlage für viele Eiszauber war, die vor allem bei den Magiern der Menschen und Zwerge äußerst beliebt waren.
„In dem Fall danke ich dir vielmals, für dein großzügiges Opfer und hoffe, dass du nicht wegen mir an einem Hitzeschlag stirbst.“ sagte Temeria, ging vor Naleya, drehte sich um und verbeugte sich tief vor ihrer Freundin, was dieser ein Lachen entlockte.
„Ich werde es schon aushalten, diese Hitze ist nichts, für eine Alchemistin!“ sagte sie, voller Überzeugung und ignorierte dabei, dass sie sich so fühlte, als wenn sie in ihrer Kleidung gekocht worde. Nach einer Weile erreichten die beiden Freundinnen das Gasthaus, in dem sie auch Vorgestern waren und traten ein. Obwohl es beinahe Abends war, waren kaum Gäste zu sehen, was Naleya ein wenig verwunderte, normalerweise wimmelte es hier nur so von Leuten.
„Ah, willkommen!“ begrüßte der Gastwirt sie, mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Setzt euch, setzt euch!“ sagte er und führte sie zu einem Tisch, in der Mitte des Gasthauses, wo die beiden sich niederließen.
„Hier scheint heute nicht viel los zu sein, woran liegt das?“ fragte Naleya neugierig, woraufhin der Wirt seufzte.
„Also habt ihr zwei noch nichts davon gehört? Wundert mich nicht, es ist auch erst eine Stunde her. Eine Handelsflotte, hat im Hafen angelegt, oder besser gesagt, die Reste einer Handelsflotte. Drei heruntergekommene Schiffe haben es geschafft, die meisten Männer von Amderad sind sofort zum Hafen gerannt, um den Verletzten zu helfen.“
„Den Verletzten?“ fragte Temeria besorgt und der Wirt nickte.
„Wie es scheint, wurde die Flotte angegriffen, wahrscheinlich von Rebellen, aber ich weiß nicht, was die Matrosen gesagt haben. Fest steht nur, dass viele Schiffe verloren gegangen sind, und dass es kaum jemanden ohne Verletzung gibt. Wir werden die Verletzten in den Häusern nahe des Hafens unterbringen, viele haben freiwillig ihre Häuser dafür bereitgestellt. Aber genug der düsteren Geschichten, was darf ich euch bringen?“
„Ich nehme ein Bier und... irgendwas zum essen, Hauptsache es ist Fleisch.“ meinte Naleya mit einem Seufzen, was dem Wirt ein Lachen entlockte.
„Heute noch nichts gegessen? Sonst bestellst du irgendwas einfaches.“
„Unsere Schlafmütze ist gerade erst aufgestanden.“ warf Temeria ein und lächelte Naleya freundlich an, die einfach irgendetwas vor sich hin grummelte. „Ich nehme auch ein Bier und... Thunfisch.“
„Wie immer also, vielen Dank für eure Bestellung, das Essen kommt sofort.“ meinte der Wirt und wandte sich ab, auf dem Weg drehte er noch einmal den Kopf nach hinten. „Wie ihr seht hat es durchaus Vorteile, dass ich Heute keine Kundschaft habe.“ sagte er noch scherzend, ehe er in der Küche verschwand. Als er weg war, wandte Temeria sich sofort an ihre Freundin und in ihren Augen glänzte es förmlich.
„Hast du das gehört?“ fragte sie, und wirkte auf Naleya wie ein kleines Kind.
„Was genau meinst du?“ fragte sie, so desinteressiert wie möglich, allerdings nützte es nichts, Temerias Begeisterung war nicht mehr zu stoppen.
„Die Handelsflotte natürlich! Glaubst du wirklich, dass es die Rebellen waren? Ich kann mir das nicht wirklich vorstellen, die haben doch nie im Leben eine Flotte, die groß genug ist um so ein Unternehmen zu wagen, unsere Handelsflotten sind immerhin gut geschützt!“
„Meinst du? Vergiss nicht, dass Lioxport sich vor ein paar Monaten den Freien Städten angeschlossen hat.“ sagte Naleya, und ließ sich auf das Gespräch mit ihrer Freundin ein. Bei den Freien Städten handelte es sich um die Städte, Ortschaften oder Dörfer, die entweder vom Kult des Gefallenen erobert worden waren, oder sich ihm freiwillig angeschlossen hatten. Wie viele es insgesamt waren wusste man nicht, aber zumindest drei der größeren Städte Demeors, hatten sich zu den Rebellen bekannt, unter anderem Lioxport, die größte Hafenstadt des Reichs.
„Stimmt, aber es heißt, der Admiral der Kriegsflotte, die dort vor Anker lag, habe sich nicht den Rebellen angeschlossen, und sich einen Weg aus dem Hafen erkämpft. Also haben die Rebellen nicht viele Kriegsschiffe in die Finger bekommen.“
„Wenn du meinst.“ murmelte Naleya und zuckte mit den Schultern.
„Dann bleibt also die Frage... wer hat die Handelsflotte überfallen? Waren es vielleicht Piraten? Oh! Oder vielleicht haben sich Seemonster bis zu den Inselreichen vorgewagt? Ich habe viele Geschichten über große Seeschlangen und...“
„Weißt du...“ unterbrach Naleya ihre Freundin und lächelte. „Mit deiner Neugier, wärst du eine großartige Alchemistin geworden. Hast du nie darüber nachgedacht, Alchemie zu studieren.“
„Niemals!“ meinte Temeria und lachte. „Zumindest nicht, seit ich bei dir gesehen habe, wie viel Arbeit eigentlich dahinter steckt, das könnte ich nie im Leben durchhalten. Ich finde schon das Leben als einfache Händlerin zu stressig. Als Alchemistin würde ich wahrscheinlich nach ein paar Tagen durchdrehen.“
„Das kannst du jetzt nicht wissen, du solltest es einmal ausprobieren!“ versuchte Naleya ihre Freundin zu überzeugen, auch wenn sie es nicht wirklich ernst meinte. „Am besten fängst du mit den einfachen Aufgaben an und lernst, wie man einen Laden ordentlich hält, also aufräumen, Staubwischen, und so weiter. Ich kenne da zufällig einen Laden, der mal wieder geputzt werden müsste.“ Temeria tat eine Weile lang so, als wenn sie ernsthaft darüber nachdenken würde, bevor sie mit gespieltem Bedauern den Kopf schüttelte.
„Tut mir wirklich leid, Naleya. Aber du weißt ja, ich bin so furchtbar ungeschickt, wenn es ums Aufräumen geht, und ich will ja nicht den Laden meiner besten Freundin in nie zuvor gesehenes Chaos stürzen.“
„Wäre auch zu schön gewesen.“ sagte Naleya und seufzte. Kurze Zeit später kam auch schon das Essen und Bier der beiden und ihr Gespräch verstummte. Den Rest des Abends redeten sie eigentlich nur noch über belanglose Dinge und scherzten umher, während sie immer mehr Bier tranken und sich das Gasthaus langsam füllte. Als Naleya und Temeria schließlich spät am Abend bezahlten und das Gasthaus verließen, hörte die Alchemistin auf dem Weg nur noch, wie einer der Gäste kopfschüttelnd sagte, einer der Matrosen habe behauptet, ihre Flotte sei von einem riesigen Kraken angegriffen worden, woraufhin das gesamte Lokal in Gelächter ausbrach, so unvorstellbar war die ganze Sache. Naleya kümmerte sich nicht groß darum, dafür hatte sie viel zu viel getrunken und war deswegen ziemlich froh, dass Temeria, die Alkohol ein wenig besser vertrug als ihre Freundin, sich die Mühe machte, sie nachhause zu bringen.
„Ich wünsche dir eine gute Nacht, wir sehen uns dann Morgen.“
„Ja... gute Nacht.“ murmelte Naleya. Dann drehte Temeria sich um und ging in Richtung ihres Hauses davon, während die Alchemistin die Tür zu ihrem Laden abschloss und die Treppe hinaufging. Erst, als sie in ihrem Bett lag ging ihr auf, dass es den ganzen Tag lang keine Spur von Uriel gegeben hatte. Einen Augenblick lang machte sie sich Sorgen, kam dann jedoch zu dem Schluss, dass ein Erzengel schon auf sich selbst aufpassen konnte. Wahrscheinlich war sie nur gezwungen gewesen, sich vor ihren Verfolgern zu verstecken und konnte deswegen nicht nach Amderad kommen. Müde nickte Naleya vor sich hin und überzeugte sich selbst davon, dass es wohl so gewesen sein musste, ehe sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl. Das bedeutete, dass sie Morgen damit anfangen konnte, die Halskette zu untersuchen und ihr Geheimnis zu lüften. Mit diesen Gedanken schlief sie letztendlich ein, und in ihrem angetrunkenen Zustand kam es ihr überhaupt nicht in den Sinn, dass sie sich das ganze vielleicht leichter vorstellte, als es eigentlich war.
…
Feon atmete erleichtert auf, als er und seine Begleiter endlich aus dem Wald traten und vor einem kleinen Hügel standen, auf dem ein vergleichsweise großes, steinernes Kloster stand. Es machte keinen sonderlich wichtigen Eindruck, aber das täuschte. Hier bewahrte die Inquisition einige der größten Heiligtümer der Kirche auf und mächtige, magische Bücher, die auf keinen Fall in falsche Hände geraten durften. Bewacht wurde das Kloster von fünfzig Soldaten der Inquisition, die sich durch jahrelange, treue Dienste diesen Posten verdient hatten, und das Vertrauen, dass damit einherging. Selbst innerhalb der Inquisition gab es nur wenige, die von diesem Kloster wussten, weshalb es eine äußerst große Ehre war, hier als Wache zugeteilt zu werden, auch wenn es so gut wie immer ereignislos war. Zusätzlich zu den Soldaten, gab es dutzende, magische Fallen und Zauber die auf dem Kloster lagen, um Diebstähle zu verhindern. Allerdings half das natürlich nicht viel, wenn die Gegenstände, die beschützt werden sollten, schon auf dem Weg dorthin gestohlen wurden, sinnierte Feon, während er sich müde die Augen rieb. Es war spät am Abend und der Überfall lag bereits drei Tage zurück, womit sie einen Tag länger für die Reise gebraucht hatten, als Feon dachte. Sie waren durch die Verletzten nur äußerst langsam vorangekommen, aber immerhin hatten sie es geschafft, sämtliche Leute so zusammenzuflicken, dass sie die Reise zum Kloster überstehen konnten, es war ihnen sogar gelungen, die Toten mitzunehmen, auf provisorischen Tragen. Auch den toten Engel, obwohl Feon sich nicht sicher war, ob sie damit das richtige getan hatten. Immerhin waren die Engel heilige Wesen, wer wusste schon, wie die anderen Engel darüber denken würden, wenn Menschen einen der Ihren durch die Gegend schleiften. Anscheinend hatte man ihre Ankunft schon erwartet, denn plötzlich landeten ein halbes Dutzend Engel vor Feon und seinen Leuten, allesamt in den Rüstungen der Seraphim. Der General wollte gerade eine müde Begrüßung murmeln, als er sich den Engel, der vor ihm schwebte genauer ansah und erstarrte, ehe er sich tief verbeugte.
„Mein Lord... es ist eine Ehre, Euch zu begegnen.“ flüsterte er, mit vor Ehrfurcht bebender Stimme und traute sich nicht, den Blick zu heben.
„Ihr dürft mir ruhig in die Augen sehen, General.“ erwiderte der Engel, mit hoher, freundlicher Stimme und Feon tat, wie ihm geheißen wurde, wenn auch mit einigem Zögern. Der Engel vor ihm hatte kurze, blonde Haare und blaue Augen, sowie die gewöhnliche Rüstung der Seraphim, alles in allem nichts, was Feon sonderlich beeindruckt hätte, wenn man ihn mit den Engeln verglich, die ihm bisher begleitet hatten, sie sahen alle so aus wie er, perfekt, erhaben, wunderschön. Was ihm jedoch förmlich die Sprache verschlug, waren die Flügel. Ganze fünf Paare, ragten aus dem Rücken des Engels und ließen damit keinerlei Zweifel übrig, dass es sich bei ihm um einen uralten, mächtigen Vertreter seiner Rasse handeln musste. Die Frau, gegen die Feon zuerst gekämpft und die von Remiel als 'Erzengel' bezeichnet wurde, hatte gerade einmal vier Flügelpaare gehabt, also musste sein gegenüber noch ein ganzes Stück über ihr stehen, zumindest, wenn das wenige, was Feon über Engel wusste tatsächlich stimmte. Sein Gegenüber ließ den Blick über Feons Truppe schweifen und blieb eine Weile lang am toten Engel hängen, ehe er mit einer Stimme sprach, die dermaßen von Trauer getränkt war, dass Feon kurz davor stand, zu weinen und er sah, dass einigen seiner Männer tatsächlich Tränen in den Augen standen. „Wie ich sehe, hat es einer der Unseren nicht geschafft... und auch viele treue Soldaten sind gefallen.“ Der Engel schloss die Augen und murmelte etwas in einer fremden Sprache, ehe er den anderen Engeln ein Zeichen gab, woraufhin sie behutsam die Leiche ihres Gefährten aufhoben und davonflogen. „General, bitte erzählt mir, was geschehen ist.“ sagte der Engel, an Feon gewandt. „Ich weiß, Ihr seid erschöpft, aber es ist wichtig, dass ich erfahre, was vorgefallen ist.“
„Natürlich, Lord...?“ begann Feon und sah den Engel fragend an.
„Mein Name ist Asbael, ich bin ein Erzengel und rechte Hand von Lord Azrael, dem Anführer der Seraphim.“
„Ich verstehe. Lord Asbael... könntet Ihr dafür sorgen, dass meine Männer versorgt werden? Sie haben viel hinter sich und sollten sich endlich ein wenig ausruhen können.“ Asbael warf kurz einen Blick über die Menschen, ehe er verständnisvoll lächelte.
„Natürlich, General. Soldaten der Inquisition!“ sprach er und wandte sich an die niedergeschlagen wirkenden Männer, die sich erst nicht getraut hatten, die Engel wirklich anzusehen, nun richteten sich jedoch alle Blicke auf Asbael. „Ihr habt Nuvaz treu gedient und euer bestes getan, ihr habt euch eine Pause verdient! Folgt meinen Gefährten, sie werden euch zeigen, wo ihr euch ausruhen könnt.“
„Vielen Dank, mein Lord.“ murmelten die Soldaten unterwürfig und verbeugten sich, ehe sie den Engeln folgten, die sie in Richtung Kloster führten. Nachdem sie alleine waren, nickte Asbael Feon zu und die beiden folgten den Soldaten, wenn auch deutlich langsamer.
„Und nun erzählt mir bitte, was geschehen ist, General.“ Feon holte tief Luft und begann dann seinen Bericht. Er ließ nichts aus und schilderte jedes noch so kleine Detail, dass ihm in Erinnerung war. Er fing einige Minuten vor dem Überfall an, erzählte von seinem Gespräch mit Remiel und endete mit den letzten Worten, die Remiel zu ihm gesagt hatte, ehe er die Verfolgung der Rebellen aufnahm.
„Mehr weiß ich leider nicht, Lord Asbael.“ sagte er zum Abschluss und biss sich ungeduldig auf die Lippe. Asbael bemerkte es und lächelte den General an.
„Macht Euch keine Sorgen, Ihr hattet nie eine Chance, niemand konnte damit rechnen, dass sie dort auftauchen würde.“ sagte Asbael, woraufhin Feon das Gesicht verzog.
„Lord Remiel sagte etwas ähnliches. Wer ist 'sie'? Wer hat uns da angegriffen?“ Der Engel sah ihn eine Weile lang an, ehe er den Kopf schüttelte.
„Es tut mir leid, General. Ihr verdient es die Wahrheit zu wissen, das tut Ihr wirklich, immerhin habt Ihr viele Kameraden verloren und seid selber geradeso mit dem Leben davongekommen. Trotzdem darf ich es Euch nicht sagen.“
„Ich... ich verstehe.“ sagte Feon und wandte sein Gesicht ab, damit Asbael nicht seinen misstrauischen Gesichtsausdruck sehen konnte. Ihm gefiel die ganze Sache überhaupt nicht. Warum konnte Asbael ihm nicht sagen, wer der Angreifer war? Offensichtlich war die Frau eine Bedrohung für die Kirche, ob Engel oder nicht. Vielleicht wollte Asbael nicht, dass bekannt wurde, dass sich Engel gegen die Kirche gewendet hatten? Feon konnte es selbst noch nicht wirklich begreifen und er war direkt dabei gewesen, viele Menschen würde so eine Nachricht wahrscheinlich in eine tiefe Glaubenskrise stürzen, wenn sie erfahren würden, dass sich die treuesten Diener von Nuvaz untereinander bekämpften. Trotzdem gefiel es ihm nicht, dass so ein großes Geheimnis daraus gemacht wurde und er hatte das Gefühl, als wenn Asbael ihm irgendetwas wichtiges verschweigen würde... Feon lachte leise auf und schüttelte den Kopf. Jetzt fing er schon an, an den treuesten Dienern Nuvaz zu zweifeln, er sollte am besten aufhören so viel nachzudenken.
„Ist etwas, General?“ fragte Asbael, und sah ihn verwundert an.
„Nein, nichts. Wann werdet Ihr aufbrechen, Lord Asbael?“
„Aufbrechen?“ fragte Asbael und zog fragend eine Augenbraue hoch, woraufhin Feon verwirrt stehen blieb. „Wovon redet Ihr, General?“
„Nun... Lord Remiel hat Verstärkung angefordert, Ihr werdet ihm doch sicherlich helfen, oder nicht?“ Asbael zögerte kurz, schüttelte dann jedoch den Kopf.
„Ich fürchte, Ihr irrt Euch, General.“ sagte er und Bedauern schwang in seiner Stimme mit. „Für Remiel ist es bereits zu spät. Wenn die Halskette in ihre Hände gefallen ist, können wir uns sicher sein, dass wir bereits gescheitert sind. Wir werden uns schon Morgen zurückziehen und einen neuen Plan aufstellen.“
„W-was? Ihr wollt Euch zurückziehen? Aber... was ist mit Lord Remiel?“
„Wie ich bereits sagte, für ihn ist es schon zu spät. Wenn er nicht schon tot ist, wird er es bald sein. Der Gegner, der ihn erwartet, ist zu mächtig für ihn... zu mächtig für mich.“ Feon starte den Engel aus großen Augen an, wovon redete er da?
„Aber... warum ist Lord Remiel den Rebellen dann gefolgt? Wenn er wusste, wie mächtig...“ Feon verstummte, als er den traurigen Gesichtsausdruck von Asbael sah. „Er... er wusste es nicht? Er wusste nichts, von der Gefahr? Wo wir schon dabei sind, was ist eigentlich diese...“ weiter kam der General nicht, denn plötzlich stand Asbael direkt vor ihm und hielt ihm eine Hand auf die Stirn.
„Remiel dachte, er müsse nur einer Verräterin gegenüberstehen, weil er nicht die ganze Wahrheit kannte. Es tut mir leid, General, aber es gibt Dinge, die Ihr nicht wissen dürft... von denen selbst ein Engel wie Remiel nichts wissen darf. Zumindest kennt er nicht die ganze Wahrheit. Ich habe die Bedrohung, die sich in der Truhe befand vielleicht ein wenig... runtergespielt. Aber das ist unwichtig. Schlaft jetzt.“ Ehe Feon etwas erwidern konnte, wurde ihm schwindlig und er fühlte sich unglaublich müde, dann wurde ihm schwarz vor Augen und er fiel in einen tiefen Schlaf.
…
Ungefähr zur selben Zeit stand Naleya vor ihrem Verzauberungstisch und starrte missmutig auf den kleinen, schwarzen Obelisk, der in dessen Mitte lag. Seit zwei Tagen versuchte sie schon, das Siegel zu lösen, dass auf dem Schmuckstück lag und sie war keinen Schritt weitergekommen! Sie hatte bereits sämtliche Gegenzauber ausprobiert, die sie kannte und war inzwischen dazu übergegangen, zauberbrechende Tränke zusammenzubrauen und über den Obelisken auszuschütten, alles ohne Erfolg. Trotzdem dachte sie nicht einmal im Traum daran aufzugeben, sie würde das Geheimnis des Schmuckstücks lüften, und wenn es das letzte war, was sie tat! So wie sie sich derzeit fühlte, könnte es auch wirklich das letzte werden, was sie jemals in ihrem Leben tun würde, sie hatte die letzten Tage überhaupt nicht geschlafen, sondern jede Sekunde damit verbracht, über dem Obelisken zu hängen und ihn zu begutachten. Nur zweimal hatte sie eine Pause gemacht, beide male um kurz etwas zu essen, ehe sie sich wieder vor den Tisch stellte. Sie wollte es einfach nicht akzeptieren, dass dieses dämliche Stück Stein, ihr nicht seine Geheimnisse offenbarte. Als Uriel ihr das Versprechen abgenommen hatte, dachte Naleya eigentlich, dass es leicht werden würde, das Siegel zu lösen, ein schwerer Irrtum, wie sich nun zeigte. Nachdem alles nicht funktioniert hatte, war sie dazu übergegangen den Zauber auf dem Stein zu untersuchen und sich die Runen genauer anzusehen, aber auch das half nicht. Sie konnte weder mit der Magie, noch den Runen etwas anfangen und das, obwohl sie bereits ein Dutzend Zauberbücher durchgewälzt hatte, auf der Suche nach Anhaltspunkten. Wütend murmelte sie einige Formeln vor sich hin und wedelte mit ihren Händen in der Luft über dem Tisch, woraufhin die Halskette ein wenig in die Luft schwebte und anfing sich zu drehen, während blaue Runen um sie herum aufleuchteten, die Naleya aufmerksam studierte, ehe sie frustriert die Hände auf den Tisch schlug und die Kette zurückfallen ließ.
„Verfluchter, dämlicher, bescheuerter, dickköpfiger, hartnäckiger Stein! Sage mir gefälligst, was ich wissen will!“ schrie sie den Obelisken an. Zwei ganze Tage! Achtundvierzig Stunden! So lange stand sie vor dem Ding und war noch immer keinen Schritt weiter! Es war das frustrierendste Erlebnis ihrer Karriere als Alchemistin, noch nie hatte eine Aufgabe ihre Geduld dermaßen auf die Probe gestellt, wie die Halskette, die sich unerbittliche weigerte, Naleya in ihre Geheimnisse einzuweihen. Wie hatte Uriel sich das ganze eigentlich vorgestellt? Kein einziger, den Menschen bekannter Gegenzauber funktionierte bei der Kette, wie sollte sie so den Zauber lösen? Sie konnte sich unmöglich, mit der Magie der Engel messen und... Naleya hielt bei diesen Gedanken inne, und ihr Blick wanderte zum anderen Tisch im Zimmer, auf dem noch immer das Fläschchen lag, dass mit Engelsblut gefüllt war. Sie dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf und lachte über ihren dämlichen Einfall. Das würde nie im Leben funktionieren... oder doch? Sie zögerte und dachte noch einmal über die Sache nach. Was hatte sie zu verlieren? Wenn es nicht funktionierte, dann hätte sie ein wenig vom wertvollen Blut verschwendet, dass sie später noch untersuchen wollte, aber wenn sie nur ein wenig benutzte, dann hätte sie noch immer genug für ihre Forschungen übrig. Naleya überlegte noch eine Weile lang hin und her, ehe sie tief Luft holte und mit schnellen Schritten zur Mischecke ging. Einen kleinen Augenblick zögerte sie noch, dann schnappte sie sich das Fläschchen und ging zum Verzauberungstisch zurück. Vorsichtig öffnete sie das Glasfläschchen und träufelte eine winzige Menge des Bluts auf den Obelisken. Eine Weile lang geschah nichts, das Blut lag einfach nur auf dem Stein und glänzte schwach vor sich hin. Naleya seufzte und wollte gerade das Fläschchen weglegen, als auf einmal ein Zischen zu hören war und das Blut auf dem Obelisken anfing zu dampfen. Plötzlich veränderte es sich, es wurde pechschwarz und war dann auf einmal... verschwunden. Naleya blinzelte verwirrt und sah sich den Tisch genauer an. Er schwamm schon fast in diversen Tränken, die sie über die Halskette ausgeschüttet hatte, aber vom Blut war keine Spur zu sehen. Nachdenklich hielt die Alchemistin das Fläschchen in die Höhe und beobachtet es. Dann hörte sie plötzlich ein lautes Klopfen von oben und zuckte zusammen. „Oh... nein!“ rief sie, doch es war zu spät. Das Fläschchen fiel ihr aus der Hand, landete auf dem Tisch und zerbrach, woraufhin sich das Blut über die gesamte Oberfläche ausbreitete. Naleya fluchte laut vor sich hin und suchte mit ihren Augen die Werkstatt nach einem Tuch ab, oder einer Möglichkeit noch etwas vom Blut zu retten, als es oben erneut klopfte, um einiges lauter als letztes mal. Ein letztes mal ließ Naleya einen Fluch hören, ehe sie die Treppe nach oben hastete, ehe ihr derjenige, der dort anklopfte noch die Tür einschlug. In ihrer Eile bemerkte sie nicht, wie das Blut auf dem Tisch sich ebenfalls schwarz färbte und förmlich vom Obelisken angezogen wurde und wie langsam ein leises Lachen den Raum erfüllte. Stattdessen hatte sie endlich den Laden erreicht und stand vor der Tür, erstarrte jedoch, kurz bevor sie diese öffnen konnte. Sie schluckte nervös, während sie durch das kleine Fenster in der Tür sah, wer dort vor ihrem Laden stand. Vier Männer in roten Rüstungen standen vor der Tür, zusammen mit... drei Engeln! Bei den Männern handelte es sich eindeutig um Soldaten der Inquisition und die Engel trugen weiße Plattenrüstungen, also musste es sich, wenn man den Erzählungen der Priester Glauben schenken konnte, um Seraphim handeln, den Engeln, die dazu auserwählt worden waren, dem einzig wahren Gott als Leibwachen zu dienen. Einer der Engel, ein Mann mit schwarzen Haaren, bemerkte sie schließlich und lächelte ihr freundlich zu, während er auf die Tür deutete. Naleya holte einmal tief Luft und schloss auf. Sie öffnete die Tür und ging einen Schritt zur Seite, woraufhin die Engel und Soldaten den Laden betraten.
„Ihr seid Naleya Armeogh?“ fragte einer der Soldaten in unfreundlichem Ton, kaum hatte er den Laden betreten, während einer seiner Kollegen die Tür schloss.
„W-was? Ähm... ja, die bin ich, wie kann ich Euch helfen?“ fragte Naleya verwirrt, woraufhin der Soldat ihr einen wuterfüllten Blick zuwarf.
„Tu nicht so, Verräterin! Wir wissen, dass du...“
„Hauptmann.“ warf der Engel mit sanfter Stimme ein und der Soldat verstummte. „Ich sagte doch bereits, dass ich an ihre Unschuld glaube, oder etwa nicht?“
„N-natürlich mein Lord... es ist nur... sie waren meine Freunde und...“
„Ich verstehe Eure Trauer, Hauptmann. Auch ich habe einen guten Freund und Kameraden verloren, aber das sollte nicht Eure Gedanken beeinflussen. Ein voreingenommener Geist, vernebelt die Wahrnehmung und kann leicht zu falschen Entscheidungen führen.“
„Ja, mein Lord. Vergebt mir.“
„Es gibt nichts zu vergeben.“ sagte der Engel und wandte sich schließlich an Naleya, die immer nervöser wurde. „Und Ihr müsst Euch nicht fürchten, Lady Armeogh. Mein Name ist Remiel und ich bin ein Seraphim.“
„Freut mich, Euch kennenzulernen, Seraphim.“ sagte Naleya und verbeugte sich. „Wie kann ich Euch helfen und warum hat der Hauptmann mich Verräterin genannt?“
„Weil Ihr benutzt worden seid, fürchte ich.“ sagte Remiel mit Bedauern in der Stimme. „Ich habe einen Trupp der Inquisition begleitet, die etwas äußerst wichtiges in ein Kloster transportieren sollten. Wir wurden überfallen und dieses wichtige Etwas, wurde gestohlen. Ein verräterischer Engel, war am Überfall beteiligt und konnte schwer verletzt entkommen. Wir haben sie vor einigen Tagen aufgespürt und gegen sie gekämpft, leider konnte sie uns entkommen. Wir haben sie verfolgt und wurden somit auf eine falsche Fährte gelockt, ehe ich bemerkte, dass sie den Gegenstand gar nicht mehr bei sich hatte. Nach einer Weile gelang es mir schließlich, die magische Fährte aufzunehmen und bis zu diesem Laden zu verfolgen. Wollt Ihr mir vielleicht sagen, wie Ihr in den Besitz des Gefängnisses gekommen seid?“
„Gefängnis?“ fragte Naleya verwirrt und Remiel musterte sie eine Weile, ehe er lächelte.
„Gut, Ihr scheint wirklich nur benutzt worden zu sein. Wie seid Ihr an...“ plötzlich verblasste das Lächeln im Gesicht des Engels und er wurde unglaublich bleich.
„Lord Remiel? Was ist los?“ fragte der Hauptmann besorgt und sah ihn fragend an, doch Remiel antwortete nicht, stattdessen wandte er sich mit einem panischen Gesichtsausdruck an Naleya.
„Törichtes Mädchen!“ rief er und Angst schwang in seiner Stimme mit. „Was hast du getan?“ Auf einmal schien nichts mehr vom anmutigen, netten Engel da zu sein, der eben noch so freundlich zu Naleya war.
„Was? Wovon redet Ihr?“ fragte Naleya und bekam langsam selber Angst. Was war hier los? Warum führte der Engel sich so auf? Sie spürte überhaupt nichts... plötzlich riss Naleya die Augen auf. Sie spürte nichts! Seit sie vor beinahe vier Tagen die Halskette in ihr Haus gebracht hatte, lag immer eine leichte, magische Aura in der Luft, nicht aufdringlich, aber durchaus spürbar. Jetzt war sie weg und sie vermutete, dass genau das dem Engel solche Angst machte. „Ähm, wenn es um die Halskette geht...“ begann Naleya, verstummte jedoch als sie merkte, dass alle drei Engel und die Soldaten an ihr vorbei starrten. Die Alchemistin schluckte nervös, als ihr aufging, wohin sie sahen und drehte sich langsam um. Was sie dort sah, brachte auch sie dazu ihre Augen weit aufzureißen. Dort, in der Tür, die zu den Treppen führte, stand ein weiterer Engel, der sich jedoch von den anderen hier im Laden unterschied, und auch von Uriel. Dieser Engel hatte das Aussehen eines jungen Mannes mit kurzen, schwarzen Haaren, spitzen Ohren, wie jeder Engel, und grünen Augen. Sein Gesicht war... einfach perfekt und unglaublich anziehend, selbst verglichen mit den anderen Engeln. Gekleidet war der Engel in eine schlichte, braune Robe und Naleya erkannte sofort, dass es sich um eine ihrer Arbeitsroben handelte, die eigentlich in ihrer Werkstatt herumlagen. Da die Robe nun einmal für Naleya angefertigt worden war, saß sie nicht richtig beim Engel und schien ein wenig zu klein zu sein, aber ihr Blick wurde momentan eh von den Flügeln gefangen. Anscheinend hatte sich der Engel die Freiheit genommen, Löcher in den Rücken der Robe zu schneiden, um Platz für seine Flügel zu schaffen. Naleya zählte ganze zwölf Flügel, sechs Paare, die jedoch nicht so schneeweiß waren, wie die von Uriel oder Remiel. Die Flügel dieses neuen Engels waren pechschwarz und verliehen im einen äußerst bedrohlichen Eindruck.
„Ah... es tut gut, mal wieder meine Flügel strecken zu können.“ sagte der Engel mit kalter, boshafter Stimme und lächelte die Anwesenden kalt an. „Oh? Remiel? Bist du das? In der Rüstung der Seraphim... nicht schlecht, du hast es weit gebracht, seit wir uns das letzte mal gesehen haben.“
„Lord... Thelios?“ hauchte Remiel und riss die Augen weit auf. „Nein... nein, nein, nein, nein, nein!“ rief er und seine Stimme klang fast schon hysterisch.
„Doch, doch, doch, doch, doch.“ äffte der Engel namens Thelios in mit einem boshaften Grinsen im Gesicht nach. „Deiner Reaktion nach zu urteilen, bin ich nicht derjenige, den du erwartet hattest.“ fügte er hinzu und schien kurz davor zu sein, laut loszulachen.
„D-das k-kann nicht sein.“ Naleya starrte Remiel verwundert an, der Engel zitterte am ganzen Leib und stotterte vor sich hin, was war hier los? „I-ihr... nein! E-es sollte jemand anderes sein... jemand ganz anderes!“
„Ah... du wurdest falsch informiert, wie niedlich.“
„Lord Remiel, kriegt Euch wieder ein!“ fuhr einer der weiblichen Engel an Remiels Seite den Seraphim an und richtete ihre Hellebarde auf Thelios. „Er mag einst ein mächtiger Engel gewesen sein, aber ihm wurde sämtliche, heilige Energie aus dem Körper gespült, das könnt Ihr doch wohl sehen. Er ist nichts, als ein Schatten seiner selbst! Er stellt keine Gefahr für uns dar, verhaften wir ihn und...“ Die Frau brach ab, als Thelios in lautes Gelächter ausbrach, es war ein helles, freundliches Lachen, bei dem Naleya sogleich warm ums Herz wurde und das auch sie Lächeln ließ, den Soldaten schien es ähnlich zu gehen, lediglich die Engel reagierten anders. Remiel wurde noch eine Spur bleicher, während die anderen beiden Engel zornige Blicke zu Thelios warfen. „Was ist daran so lustig, Gefallener?“
„Oh, nichts, nichts.“ sagte Thelios, nachdem er sich wieder eingekriegt hatte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Diese kleine Rede wäre sicherlich äußerst beeindruckend und bedrohlich gewesen, wenn du... na ja, beeindruckend oder bedrohlich wirken würdest. Tut mir leid, aber ich kenne nicht einmal deinen Namen, daher ist es einfach nur lustig, dass du glaubst, du könntest gegen mich gewinnen.“
„Wie bitte?“
„Du hast mich schon richtig verstanden, und deine Flügel... du hast vier Flügel.“ Thelios seufzte. „Das heißt du bist eine einfache Nudrin. Und du glaubst allen Ernstes, du könntest gegen einen Nathrezim gewinnen?“
„Ihr könnt keine Heilige Magie mehr wirken und...“
„Stimmt, in meinem Körper befindet sich kein Funken heiliger Energie mehr.“ kanzelte Thelios die Frau ab, ließ dann jedoch ein bösartiges Lächeln in seinem Gesicht erscheinen. „Aber sollte das nicht eher ein Grund zur Besorgnis für euch sein?“
„W-was? Was meint Ihr damit?“ die Frau blinzelte kurz unsicher und schien nicht mehr allzu überzeugt von sich sein.
„Nun, wenn ich keine Heilige Energie mehr in mir habe... heißt das, ich kann so etwas hier machen.“ sagte Thelios leichthin und kurz darauf erschien eine schwarze Flamme über seiner rechten Hand, deren Fläche er nach oben gerichtet hatte.
„Nein!“ schrie Remiel auf, wandte sich um und stürmte aus dem Laden. Kaum war er draußen, spreizte er seine Flügel und flog davon.
„Lord Remiel!“ rief ihm die Frau nach, ehe sie sich wieder zu Thelios umwandte.
„Remiel ist der klügste von euch. Wollt ihr ihm nicht nachlaufen? Oder nachfliegen?“ Anstatt zu antworten, ging die Frau zum Angriff über, dicht gefolgt von der zweiten Engelsfrau und den Soldaten. „Zu schade.“ meinte Thelios mit einem Seufzen und richtete seine Hand auf die Angreifer. Die schwarze Flamme vervielfältigte sich und schoss auf die Engel und Menschen zu. Man konnte ein helles Klirren hören und etwas blitzte Golden, dann schrien die Soldaten und Seraphim gleichzeitig schmerzerfüllt auf und griffen sich an den Hals. Die schwarzen Flammen waren scheinbar spurlos verschwunden, trotzdem setzten sie nicht ihren Angriff fort, sondern ließen ihre Waffen fallen und gingen in die Knie. „Möge Nuvaz über eure Seelen wachen.“ flüsterte Thelios und kurz darauf... verschwanden die sechs Personen einfach. An ihrer Stelle flammte kurz schwarzes Feuer in der Luft auf, dass jedoch ein paar Sekunden später verschwand, dann war es still im Laden. Naleya starrte Thelios voller Angst an und wollte etwas tun, wegrennen, um Hilfe rufen, doch sie konnte es nicht. Als ihr Blick dem des Engels begegnete, fühlte sie, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief und sie setzte einen Fuß nach vorn. Dann gaben plötzlich ihre Beine nach und dann sah sie nur noch, wie der Boden ihres Ladens immer näher kam, bevor für sie alles dunkel wurde.